Erinnerung lehrt Verstehen

Unser Autor Frank Ebbecke teilt seine Gedanken und Erlebnisse zum 75. Siegestag der Sowjetunion über das nationalsozialistische Deutschland.

Die Erinnerung hochhalten: Gedenkmarsch des „Unsterblichen Regiments“ 2017 in Moskau. (Foto: Nikolaj Strischow)

Gerade in diesem Jahr sollte der 9. Mai, der Tag des Sieges, im ganzen Riesenrussland ein ganz besonderer Feiertag werden. Und natürlich gerade hier im Herzen der Nation auf dem Roten Platz: glorreiche Parade von Tausendschaften an Soldaten aller Waffengattungen im preußischen Stechschritt, ermutigend-stramme Marschlieder zum allgemeinen Mitsingen, demonstrativ-lautes Säbelgerassel mit neuester Militärtechnik, beschwörend-markige Reden der Politspitze. Daraus wird nichts. Denn die Welt ist, wie es der französische Staatspräsident Emmanuel Macron jüngst beschwor, wieder im Krieg. Diesmal gegen einen unsichtbaren Feind. Ein Virus hat die globale Menschheit zum Nothalt gezwungen. Aber die Erinnerung kann und muss wach bleiben.

Das deutsche Nazi-Reich hatte die Welt für sechs Jahre in Brand gesetzt. Der totale Vernichtungskrieg nach Hitlers wahnsinnigem Diktat zum Wohle seines arischen „Herrenvolkes“ die russischen „Untermenschen“ zu versklaven, aber am liebsten ganz von der weltpolitischen Bühne verschwinden zu lassen, endete für die Brandstifter selbst in einer Katastrophe. Nun, die Russen, sie sind noch da, die siegreiche Sowjetunion seit bald 30 Jahren nicht mehr. Der höchste Blutzoll, den eine Völkergemeinschaft zahlen musste, haben ihre Nachfahren zu beklagen: unfassbare 27 Millionen Menschen. Das vergangenheitsbewältigende Kollektivbewusstsein für ein angemessenes Angedenken und eine entsprechende Demut erschöpft sich im Westen zu oft auf die eiskalt geplanten Holocaust-Völkermorde in dieser schrecklichen Zeit – der Abermillionen Menschenopfer unter Russen im Großen Vaterländischen Krieg wird minder gedacht.

Die Geschichten sind überall

Hierzulande dafür umso unauslöschlich-nachhaltiger. Für viele ist der „Den Pobedy“, der Tag des Sieges über Nazi-Deutschland – nicht über all die Deutschen, wie hier allseits immer wieder betont wird – der ausgesprochen heiligste Tag eines jeden Jahres. Ich lebe und arbeite hier schon seit fast zweieinhalb Jahrzehnten. Und zwar gerne. Ich mag das Land und vor allem die Leute. Wo ich es geschafft habe, das nötige Vertrauen und persönliche Freundschaften unter Russen zu gewinnen, entdecke ich in deren heimischer Umgebung mit Sicherheit so etwas wie eine Reliquienecke – schwarz-weiße, schon leicht vergilbte Fotos der Verwandten, die in diesem weltweiten verheerendsten Krieg umgekommen sind, umkränzt von Ikonenbildchen. Es gibt im heutigen Russland einfach so gut wie keine Familie, die nicht durch den Tod mindestens eines Mitglieds berührt worden wäre.

So ist seit diesem 9. Mai seit Jahren und über die Generationen hinweg eher ein Tag der gelebten Erinnerung, der ewigen Trauer der Hinterbliebenen geworden. Nach den staatlich organisierten öffentlichen Siegesfeierlichkeiten, die mehr dem verdienten Respekt vor den militärischen Leistungen und der Pflege eines selbstbewussten Nationalstolzes dienen sollen, ziehen wahre Völkerscharen durch die Hauptstraßen – das „Unsterbliche Regiment“ wie der freiwillige Umzug genannt wird. An langen Stöcken werden die vergrößerten, auf Pappe geklebten Porträts der Opas und Omas, der Väter und Mütter, der Onkel und Tanten vor sich hergetragen. Weniger in eigentlich zu erwartender Trauerstimmung, mehr in liebevoller Dankbarkeit und ehrendem Angedenken.

Der unvergessene Großvater

Das habe ich selbst schon hautnah miterlebt, aus langjähriger Freundschaft und Zuneigung zu Arina, die extra von ihrem augenblicklichen Wohnsitz im schweizerischen Zürich mit Söhnchen Savva für diesen emotionalen Gedächtnisaufmarsch eingeflogen war. Zusammen mit ihrem Vater Nikolaj hielten sie gleich vier Erinnerungsfotos in den Händen. Darunter Ivan Strischow, einer ihrer Großväter. Der musste vom Finnischen Krieg über die Schlacht bei Brest-Litowsk und den Siegeszug nach Berlin bis zur Front gegen Japan im Fernen Osten, dazwischen sogar die Zeit in deutscher Kriegsgefangenschaft, aus der er fliehen konnte, viele Jahre seiner Jugend verschenken.

Arina und ihr Sohn Savva: Die Erinnerung wird auch an die Kleinsten in der Familie weitergegeben. (Foto: Nikolaj Strischow)

Das „Unsterbliche Regiment“ hat ein friedensstiftendes Kapitel am jährlichen Siegestag aufgeschlagen. Eine unpolitische Bürger-initiative, die ihren Anfang 2012 im sibirischen Tomsk genommen hatte, angestoßen von der Idee eines TV-Privatsenders. Nach dem Auftakt im Sibirischen wurde das „Unsterbliche Regiment“ ein Jahr später in 30 Städten, im Jahr darauf in 120 Orten schon zur Tradition. 2015 mischte sich sogar Präsident Wladimir Putin höchstpersönlich mit dem Bild seines Vaters unter sein Volk auf der Moskauer Twerskaja Straße – da waren es schon halbe Million Leute. Inzwischen laufen landesweit offiziellen Angaben zufolge mehr als 10 Millionen mit, in Moskau und St. Petersburg allein je eine Million. Geteilte familiäre Erinnerungen verbinden – über alle Grenzen hinweg. Im nächsten Jahr bin ich, wenn der Virus und die Moskauer Stadtregierung es erlaubt, wieder dabei. Im Rückblick in hunderte von Jahren gemeinsamer Geschichte verbindet uns doch eigentlich mehr als uns trennt.

Eine Begegnung in der Steppe

So habe auch ich einen Onkel, einziger Bruder meiner Mutter, nie kennengelernt. Er hat in Wehrmachtsuniform vor Stalingrad mit Ende 20 sein Leben lassen müssen. Wie und wo genau blieb im Familienkreis unbekannt – bis vor zwei Jahren. Nur soviel, dass er alles andere als Soldat sein wollte und wohl auch kein eingefleischter Nazi war – bin froh darüber. Und doch habe ich noch eine letzte Spur gefunden. Den Namen dieses, meines engen Verwandten, Willi Nickel aus Mayen in der Eifel, fand ich auf einem der 17 mächtigen Granitwürfel, auf denen in umlaufend endloser Reihe und kleinster Schriftgröße mehr als 100.000 Namen gefallener deutscher Soldaten mit ihren Geburts- und Sterbedaten eingemeißelt sind.

Mahnmal in der leeren Weite: Die Gedenkstätte Rossoschka. (Foto: Wikicommons)

Da wird man still in der Totenstille. Auf der so beeindruckenden wie verstörenden Gedenkstätte Rossoschka, 37 Kilometer vom heutigen Wolgograd in der menschenleeren Steppe, da, wo einst blühende Dörfer waren, da, wo bei eisigen minus 40 Grad Verbände der Roten Armee der reichsdeutschen 6. Armee 1943 den entscheidenden Todesstoß versetzte. Geschätzte 1,5 Millionen Menschen fielen einem der verheerendsten kriegerischen Gemetzel zum Opfer – Soldaten und Bürger, Frauen und Kinder, Alte und Junge. Es wurde ein Massengrab Europas: Hier starben heimische Russen, fremde Deutsche, Italiener, Österreicher, Rumänen, Ungarn, Tschechen, Spanier. Auch mein Onkel.

Zeit für einen Neuanfang

Wer kann schon entscheiden, wo auf der Welt er geboren wird – keiner. Ich eben als Deutschstämmiger. In der ersten Generation, die bis heute keinen Krieg erleben musste. Ich fühle mich nicht vererbt schuldig, obgleich durchaus verantwortlich. Dazu gehört für mich, die Erinnerung wachzuhalten. Am 31. August 1994 hatte ein eigens komponiertes Abschiedslied der Roten Armee von deutschem Boden am Großen Ehrenmal in Berlin-Treptow Premiere – mit einer Zeile in deutscher Sprache: „Deutschland, wir reichen Dir die Hand.“ Also sprach Zarathustra, der persische Religionsstifter, Philosoph und Dichter, schon vor 3000 Jahren von der nahezu banal anmutenden, aber doch fortgesetzt missachteten Rezeptur für den Sieg des Guten und über das Böse unter den Menschen: „Gute Gedanken. Gute Worte. Gute Taten.“ Immer wieder einen Versuch wert. Die politische Forderung unter dem einstmaligen deutschen Bundeskanzler Willy Brandt „Wandel durch Annäherung“ scheint dringlicher denn je. Und zwar für beide Seiten. Die Karten sollten neu gemischt werden.

Frank Ebbecke

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