Die vergessene Parade

Sie steht im Schatten der berühmten Parade auf dem Roten Platz und wurde von der kommunistischen Geschichtsschreibung lange totgeschwiegen: Am 7. September 1945 hielten die Sowjetunion und die Westalliierten in Berlin eine gemeinsame Siegesparade ab. 75 Jahre danach ist die Militärschau aus der gemeinsamen Erinnerung verschwunden.

Blick von der Siegessäule: Sowjetische Panzer rollen Richtung Brandenburger Tor. (Foto: Waralbum.ru)

Offiziere schreiten mit kritischem Blick die Reihen der angetretenen Soldaten ab, hier und da werden letzte Falten aus den Uniformen gezupft und etwas schief sitzende Helme noch einmal geradegerückt. An den Straßenrändern beobachten neugierige Berliner die abfahrbereiten Panzer: Am frühen Morgen des 7. September 1945 herrscht im Berliner Tiergarten ungewöhnliche Betriebsamkeit. In nur wenigen Stunden soll auf der Charlottenburger Chaussee – der heutigen Straße des 17. Juni – eine gemeinsame Parade von Sowjets, Amerikanern, Briten und Franzosen stattfinden. Der heute weitgehend vergessene Aufmarsch ist die einzige große gemeinsame Siegesfeier der Sowjetunion und ihrer Verbündeten nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges.

Gemeinsamer Aufmarsch am Brandenburger Tor

Die Idee zu dem gemeinsamem Aufmarsch stammte von Marschall Georgi Schukow, der am 24. Juni 1945 bereits die berühmte Siegesparade auf dem Roten Platz in Moskau abgenommen hatte. Nach seiner Rückkehr nach Berlin schlug der Oberbefehlshaber der sowjetischen Truppen in Deutschland eine ähnliche Veranstaltung in Berlin vor – mit der Beteiligung aller Siegermächte. Stalin gefiel die Idee und gab grünes Licht. Auch Amerikaner, Briten und Franzosen stimmten zu. Stattfinden sollte die gemeinsame Siegesfeier in Sichtweite geschichtsträchtiger deutscher Symbole wie dem Brandenburger Tor und dem deutschen Reichstag, bei dessen Erstürmung in den ersten Maitagen 1945 Tausende sowjetische Soldaten ihr Leben verloren hatten. Zuvor musste allerdings noch Japan, der letzte verbliebene Kriegsgegner der Alliierten, niedergerungen werden. Nach der Kapitulation des Kaiserreiches am 2. September 1945 stand der Berliner Siegesparade dann nichts mehr im Weg: Man verständigte sich auf einen Termin fünf Tage später.

Modern und feuerstark: Der sowjetische Panzer IS-3 auf der Berliner Siegesparade 1945. (Foto: Waralbum.ru)

Nach Vorstellung der Sowjets sollten auch die Oberkommandierenden der drei Westalliierten an dem Aufmarsch im Berliner Tiergarten teilnehmen. Doch dazu kam es nicht. Nur wenige Tage vor Beginn der Parade schlugen US-General Dwight D. Eisenhower und sein britischer Amtskollege Feldmarschall Bernard Montgomery die sowjetische Einladung aus. Auch Jean de Lattre de Tassigny, Oberbefehlshaber der französischen Besatzungsmacht, sagte ab. Man werde ranghohe Generäle als Vertretung schicken, kündigten die Westmächte an. Marschall Schukow reagierte umgehend. „Ich rief sofort J. W. Stalin an“, schreibt der Militär in seinen 1969 erschienenen Memoiren „Erinnerungen und Gedanken“. Die Westmächte wollten die politische Bedeutung der Parade der Anti-Hitler-Koalition schmälern, habe Stalin am Telefon gezürnt. „Beachten Sie die Absage der Oberkommandieren nicht und nehmen Sie die Parade selbst ab“, zitiert Schukow die Anweisung des Kremlherrn. „Umso mehr, als Sie dazu mehr Recht haben als die.“

5000 Soldaten im Tiergarten

Und so rollte Schukow schließlich um Punkt 11 Uhr in einem offenen Packard-Twelve-Cabriolet stehend durch den Berliner Tiergarten und grüßte die rund 5000 angetretenen Soldaten militärisch mit Hand an der Mütze. Eine Viertelstunde später hält sein Wagen vor einer kleinen Tribüne, die tags zuvor zwischen Siegessäule und Brandenburger Tor errichtet worden war und auf der bereits eine Delegation des US-Kongresses sowie verschiedene Ehrengäste ihre Plätze eingenommen hatten. Auch die Vertreter der Westalliierten – der amerikanische General George S. Patton, der britische Generalmajor Brian Robertson und der französische General Marie-Pierre Kœnig – waren vor Ort.

Schukow, der Galauniform und rund 30 Orden angelegt hatte, trat ans Mikrophon. „Mit einem letzten entscheidenden und mächtigen Schlag ist der Zweite Weltkrieg zu Ende gegangen“, erklärte der Marschall, dessen Rede synchron ins Englische und Französische übersetzt wurde. Der Dank der Menschheit gehöre den Völkern Amerikas, Großbritanniens und Frankreichs, welche in schwerer Stunde gegen den gemeinsamen Feind zusammengestanden hätten. „Es lebe unser großer Sieg!“ Anschließend hielten die Vertreter der West­alliierten ähnliche Ansprachen.

Marschall Georgi Schukow begrüßt die Teilnehmer der Parade. (Foto: Waralbum.ru)

Soldaten in Kilts und amüsierte Russen

Nachdem die letzten Worte verklungen waren, gab der britische Generalmajor Eric Nares gegen 11.30 Uhr das Kommando zum Beginn der Parade. Den Anfang machten rund 2000 Soldaten der 5. Sowjetischen Stoßarmee, die an den blutigen Kämpfen um Berlin teilgenommen hatten. Anschließend folgten mit jeweils rund 1000 Soldaten französische und britische Infanteristen sowie amerikanische Luftlandestruppen. Eigene nationale Militärorchester begleiteten den Vorbeimarsch der Truppen. Den sowjetischen Soldaten blieben dabei vor allem die Kilts einer schottischen Dudelsackabteilung im Gedächtnis. „Das war komisch“, erinnert sich ein Veteran in einer russischen TV-Dokumentation noch fast 60 Jahre später. „Männer von 1,80 Meter in Röcken, die über dem Knie enden und beharrte Beine – und wir durften nicht lachen! Wir waren schließlich bei der Arbeit!“

Anschließend walzten 62 bri­tische, französische und amerikanische Panzer sowie 94 gepanzerte Wagen von der Siegessäule zum Brandenburger Tor. Ihnen folgten 52 nagelneue sowjetische IS-3-Panzern, die erst seit dem Frühjahr 1945 in Serie hergestellt wurden. Die massiven Stahlungetüme waren für die Parade extra nach Berlin geschafft worden. Beendet wurde die Schau mit den Hymnen der Siegermächte und feierlichen Salutschüssen aus Kanonen.

Britische Infanteristen marschieren durch den Berliner Tiergarten. (Foto: wikimedia.org)

Kein Grund zum Stolz

Doch so schnell wie der Kanonendonner verklang, verwehte auch die Erinnerung an die gemeinsame Parade in Ost und West. In sowjetischen Kinos wurde der Aufmarsch nur ein einziges Mal in einem knapp dreiminütigen Wochenschaubeitrag ohne jeglichen Kommentar zu pathetischer Marschmusik gezeigt. Dabei hatte ein sowjetisches Kamerateam rund 30 Minuten Filmmaterial in Berlin gedreht. Danach wurde die Parade für Jahrzehnte totgeschwiegen. Denn für Stalin war sie kein Grund zum Stolz. Zu schwer wog nach seiner Meinung die Absage der Teilnahme der west­lichen Oberkommandierenden.

Auch nach dem Ende der Sowjet­union blieb die Berliner Siegesfeier ein weißer Fleck in der russischen Weltkriegserinnerung. Dies änderte sich erst im Jahr 2004, als der Fernsehsender NTW dem Thema die knapp 40-minütige Doku „Die vergessene Parade“ widmete. Anschließend veröffentlichten mehrere Zeitungen Erinnerungsstücke über den Aufmarsch. Den meisten Russen ist die Parade im Berliner Tiergarten aber weiterhin völlig unbekannt.

Birger Schütz

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