Verspielt und opulent – so stellt man sich den Jugendstil normalerweise vor. Wie vielfältig die Werke sind, die die Epoche in Russland hervorgebracht hat, zeigt jetzt eine Sonderausstellung in der Tretjakow-Galerie. Von den späten 1890er bis in die 1910er Jahre vermischten sich im russischen Jugendstil verschiedene Kunstgattungen und Ästhetiken. Es finden sich metaphysische Landschaften und charakterstarke Porträts bekannter Schriftsteller der Zeit. Mit der Literatur und dem Theater ist die Epoche grundlegend von anderen Kunstformen beeinflusst.
Diese Verflechtung zeigt sich eindrücklich im Herzstück der Ausstellung, dem Werk „Prinzessin des Traums“ von Michail Wrubel. Das Bild steht in der Tradition des Silbernen Zeitalters in der russischen Literatur, das eng mit der Ästhetik des Symbolismus verbunden ist. Inspiriert von Bühnenbildern im Theater entstand in der Jugenstilmalerei der Typus der Bildtafel, zu dem auch Wrubels Werk gehört. Bei einem Maß von 14 mal sieben Metern trifft die monumentale Form des Gemäldes auf eine detailbetonte Ausarbeitung.
Italien als Inspirationsquelle
Auch die typische verspielte Ornamentik der Epoche ist in der Ausstellung vertreten. Ein wiederkehrendes Motiv ist Italien, das der Maler Isaak Brodskij in seinem gleichnamigen Werk aufgreift. Es entstand bei einer Reise auf die Insel Capri. Inmitten einer Farbenpracht von reifen Früchten sitzen drei Frauen in ebenso bunten, fein verzierten Kleidern. Diese sind seine Frau, die Künstlerin Ljubow Brodskaja, die gemeinsame Tochter sowie deren beide Schwestern.
Ebenfalls auf Capri entstanden ist schon zwei Jahre zuvor ein verspieltes Italien-Idyll von Alexander Sawinow, der seine zukünftige Frau Lia Zitowskaja „auf dem Balkon“, so der Titel des Werks, gemalt hat.
Die russische Art Nouveau erschöpft sich nicht nur in der Malerei. Zu den ausgestellten Skulpturen gehören Werke von Anna Golubkina und Nikolaj Andrejew, dem größten Meister der russischen Jugendstilplastik. Die Büsten sind aus Gips und Holz gefertigt und in sanften Farben eingetönt, was die verschiedenen Gesichtsausdrücke der Figuren noch verstärkt. Die Skulpturen sind verteilt zwischen den Gemälden angeordnet. So lässt sich auf der Ausstellung der titelgebende „Weg zur Synthese der Kunst“ nicht nur sehen, sondern auch wahrhaftig beschreiten. Noch bis August 2022 gibt es die Gelegenheit dazu.
Anna Finkenzeller