Entzugserscheinungen

Kulturschock? Nach einem Moskau-Aufenthalt wirkt selbst das bunte Berlin eher wie eine quirlige Puppenstube denn eine große Weltmetropole. 

"Puppenstube" Berlin / Peggy Lohse

„Puppenstube“ Berlin / Peggy Lohse

Nein, es ist nicht der deftige Borschtsch oder das süße Speiseeis, nicht das Schimmern der goldenen Zwiebeltürme oder allgegenwärtiges Internet, weder Platzkart-Schlafwagen noch der 90-Sekunden-Takt der Moskauer Metro, was mir jetzt fehlt, da ich in der Berliner Sonne auf ein neues Visum warte.

Liebe Leser, jeder von Ihnen, der schon einmal in Russland war oder auch regelmäßig dort ist, kennt das ganz sicher: Nach einem Moskau-Aufenthalt wirkt selbst das bunte Berlin eher wie eine quirlige Puppenstube denn eine große Weltmetropole.

Aber was fehlt Berlin zu einem „deutschen Moskau“? Nochmal gute 8,5 Millionen Einwohner? Das wäre zu einfach. Nein, es ist offenbar nichts, was uns gefällt, solange wir in Moskau sind, was uns dann in Deutschland fehlt. Es ist vielmehr das Nervende, Ätzende, Laute der hetzenden Großstadt: das Ellenbogen-Gerangel in U- und S-Bahnen, ihre kleinen Kinder anbrüllende, überforderte junge Mütter, krakeelende Betrunkene und leise vor sich hin schluchzende Mütterchen im Minibus. All das, was man noch vor Ort am liebsten nicht sehen wollte. Was Christa Wolf schon 1963 in ihren „Moskauer Tagebüchern“ und später einem unfertigen Fragment als „die grasüberwachsene Stadt“ bezeichnet, „die langsam mit Gras überwächst, weil die Menschen innerlich zuwachsen“. Nicht, dass es das in Deutschland nicht gäbe – nein. Aber es ist seltener und stiller.

In der Berliner S-Bahn ein Gedanke: Während man in Moskau mit dem Strom schwimmen muss, um vorwärts zu kommen, ohne unterzugehen, kann man sich in Berlin getrost treiben lassen. Zunächst dachte ich vor allem an den Verkehr…

Als nun am Wochenende ein junger Mann, in einem einfahrenden Regionalexpress sitzend, seinen Rucksack schon vom Nachbarsitz nahm, als er die Menschenmenge am Bahnsteig des Leipziger Hauptbahnhofs nur erblickte, wurde mir klar: Genau, Umsichtigkeit ist hier ein Gebot. Und das wiederum fehlt Moskau zuweilen schmerzlich. So wie die ruppige Moskauer Rücksichtslosigkeit dann wohl Berlin fehlt, um von einem russlanderfahrenen Reisenden direkt ernstgenommen werden zu können. Wenigstens auf den ersten Blick direkt nach der Rückkehr. Und so ist es zunächst einmal eine kleine, beschauliche, deutsche Puppenstube: höflich, zuvorkommend, hübsch.

Peggy Lohse

Die Russen haben Europa in den Genen

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