Schlaflos in Uljanowsk

Nicht die großen Metropolen Moskau oder St. Petersburg, sondern das 600 000 Einwohner zählende Uljanowsk hat seit diesem Jahr einen Nachtbürgermeister. Im Gespräch mit der MDZ erklärt der 27-jährige Amtsinhaber Pawel Andrejew, wie er zum Bindeglied zwischen urbaner Kultur und dem Rathaus wurde und wie er die Stadt an der mittleren Wolga zu einem lebenswerteren Ort machen will.

Nachtbürgermeister
Pawel Andrejew hat große Pläne für das kulturelle Leben seiner Heimatstadt. (Foto: privat)

Herr Andrejew, warum hat sich ausgerechnet Uljanowsk entschieden, einen Nachtbürgermeister zu ernennen und warum wurden Sie ausgewählt? 

Warum ausgerechnet ­Uljanowsk als erste russische Stadt einen Nachtbürgermeister bekommen hat, kann ich nicht sagen. Ich selbst bin schon länger in der Jugendarbeit aktiv und setze mich für die gesellschaftliche Entwicklung der Stadt ein. Im vergangenen August kam der Gouverneur Sergej Morosow auf mich zu und erklärte mir, dass er nach einer Strategie suche, um die Jugend in Uljanowsk zu halten. Da hat er mir die Stelle angeboten. 

Ich habe mir anschließend viel Zeit genommen, um zu überlegen, wie man den Job angeht. Es gibt natürlich die Erfahrungen europäischer Nachtbürgermeister, die habe ich mir auch angeschaut. Doch es wurde schnell klar, dass unsere Situation anders ist und man deshalb etwas Eigenes entwickeln muss.

Seit April bin ich offiziell Berater des Bürgermeisters für Kultur- und Jugendfragen. Denn der Titel „Berater des Bürgermeisters für das Nachtleben“ hat in Russland etwas Anrüchiges. 

Wie ist denn die Situation in Uljanowsk? Welche Probleme müssen sie angehen? 

Erstmal muss man sagen, dass wir „Nacht“ anders definieren. Für uns ist die Nacht die arbeitsfreie Zeit, fängt also schon am späten Nachmittag an. Unser Zielpublikum sind überwiegend junge Menschen, also zwischen 18 und 35 Jahren. Und diese Gruppe sieht es zunehmend kritisch, dass ihre Freizeitmöglichkeiten eingeschränkt sind. Das fängt bei ganz banalen Geschichten an. So sind Teile der Stadt nur unzureichend beleuchtet und nach 22 Uhr gibt es keinen Nahverkehr mehr. Denn der ist in Uljanowsk in privater Hand. Deswegen haben die meisten Bars und Restaurants auch sehr früh geschlossen. Mittlerweile haben wir die Betreiber überzeugen können, bis 2 oder 4 Uhr morgens aufzuhaben. Und hier taucht schon das nächste Problem auf. Auf vielen Hauptstraßen darf man nur bis 21 Uhr parken, dann wird bis 6 Uhr gereinigt. Wir verhandeln momentan mit dem Rathaus darüber, die Parkzeiten zu verlängern. Das ist bürokratisch aber sehr aufwendig. 

Der Titel „Berater des Bürgermeisters für das Nachtleben“ hat in Russland etwas Anrüchiges.  

Wie kann man sich die Kulturszene in Uljanowsk vorstellen? 

Die alternative Szene ist ein wenig wie ein Kindergarten. Es gibt viele, die sich nicht leiden können. Das macht es natürlich schwer, eine Community zu schaffen. 

Was Musik angeht, so gibt es leider nur wenige Bühnen, die bespielt werden können. Auch deshalb verlassen viele Bands die Stadt. Genau hier setzen wir an und wollen mehr Orte für Musik schaffen. Momentan treffen wir uns jeden Monat und versuchen Lösungen zu diskutieren. Die Treffen sind für alle offen. 

Das klingt nach viel Arbeit für die Zukunft. Haben Sie schon etwas konkret umsetzen können?  

Wir haben in diesem Jahr die Museums- und die Kunstnacht organisiert. Da mussten wir mit allen Museen arbeiten und dazu noch alternative Orte und Programme suchen. Die Herausforderung war, die Nächte zu einem außergewöhnlichen Ereignis werden zu lassen. So haben wir Bühnen in Galerien und Museen aufgebaut, also an Orten, an denen normalerweise keine Konzerte stattfinden. Und statt bis 21 Uhr, liefen Museums- und die Kunstnacht bis 3 Uhr morgens. Das kam bei den Menschen sehr gut an. 

Gerade für die etablierten Museen war es eine interessante Erfahrung, da sie sich ein völlig neues Publikum erschlossen haben. Für sie ist es jetzt wichtig zu verstehen, dass es sich lohnt, länger aufzuhaben. Aber das müssen die Museen letztendlich selbst entscheiden, wir können da nur beraten. 

Nachtbürgermeister
Mit Filmvorführungen auf belebten Straßen erobern die Uljanowsker ihre Stadt zurück. (Foto: instagram.com/ulnights)

Gibt es auch darüber hinaus langfristige Projekte?  

Wir wollen die Kultur dezentralisieren und dort stattfinden lassen, wo die Menschen wohnen. Eines unserer ersten Formate war die Silent Disco. Die haben wir zu Musikspaziergängen ausgebaut. Dafür erstellt ein DJ eine Playlist, zu der die Menschen anschließend durch die Stadt gehen und tanzen. Dann zeigen wir noch Filme auf den meist sehr lauten Hauptstraßen der einzelnen Stadtviertel. Unser neuestes Projekt sind Nachtrundgänge für die Einheimischen. Denn die Uljanowsker kennen ihre Stadt nicht. Das ist leider Fakt. Deswegen nehmen wir sie mit in die Schlafviertel, wo bisher kulturell nichts passiert. Wir wollen, dass die Einwohner jede Ecke ihrer Stadt kennenlernen und eine Vorstellung davon haben, wo sie leben. 

Das gewaltige Interesse an diesen Rundgängen zeigt, dass wir einen Nerv getroffen haben. 

Das sind schon sehr viele Projekte. Haben Sie für Ihre Arbeit ein eigenes Budget? 

Nein. Ich verzichte sogar auf mein Gehalt. Für mich ist der Job ein Ehrenamt. Aber wir können die Infrastruktur des Rathauses nutzen. Außerdem bemühen wir uns um Fördergelder. Damit konnten wir in diesem Jahr zwei Projekte umsetzen. 

Welche Projekte wollen Sie in naher Zukunft umsetzen? 

Mit dem, was wir machen, zeigen wir, dass Nachtleben mehr als Bars, Cafés und Restaurants bedeutet. Und im Winter kann man auf der Straße nicht viel machen. Deswegen suchen wir gerade neue Kooperationspartner wie Sportvereine und Fitnesscenter. Viele von ihnen haben ja lange auf. Aber da stehen wir noch ganz am Anfang 

Die Rundgänge werden wir im nächsten Jahr auf alle Stadtviertel ausweiten und dabei mit professionellen Reiseleitern zusammenarbeiten. 

Letztendlich müssen wir daran gehen, die Infrastruktur grundlegend zu verändern. Wie beispielsweise den Nahverkehr. Wichtig ist aber erst einmal, dass die Menschen in Uljanowsk uns annehmen. 

Wie lange wollen Sie noch Nachtbürgermeister bleiben?

Ewig will ich den Job nicht machen. Bis Ende 2020 wollen wir ein Wahlsystem ausarbeiten. Dann soll die Community bestimmen, wer sie vertritt. In fünf bis sieben Jahren könnten dann alle Einwohner an der Wahl teilnehmen. 2021 wird aber erstmal ein neuer Gouverneur gewählt. Was danach kommt, weiß niemand. Meine Hoffnung ist, dass sich der Nachtbürgermeister bis dahin so etabliert hat, dass man ihn nicht mehr abschaffen kann.

Die Fragen stellte Daniel Säwert.

Nachtbürgermeister

2012 führte Amsterdam den ersten Nachtbürgermeister ein. Er soll zwischen Nachtschwärmern, Bar- und Klubbetreibern auf der einen sowie geplagten Anwohnern und der Stadtverwaltung auf der anderen Seite vermitteln. Dazu werden Beschwerden und Anliegen gesammelt und der Stadt vorgetragen. Nach der erfolgreichen Umsetzung zogen andere Städte nach. Weltweit gibt es aktuell 14 Nachtbürgermeister, zwei davon in Russland. Neben Pawel Andrejew noch Arthur Chosrowjan in Kasan. Krasnojarsk und St. Petersburg prüfen aktuell die Einführung eines solchen Amtes.

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