„Ich weiß nicht, was es bedeuten soll, russisch zu sein“

Olga Grjasnowa ist eine der bekanntesten Autoren der deutschen Gegenwartsliteratur. Auf Einladung des Goethe-Instituts stellt Grjasnowa ihren aktuellen Roman „Gott ist nicht schüchtern“ auf einer Lesereise in St. Petersburg, Archangelsk und Moskau vor. Mit der MDZ sprach Grjasnowa über ihre Erfahrungen mit Russland, ihre Romanhelden und die Frage nach Identität.

Grjasnowa

Olga Grjasnowa auf der Lesung in St. Petersburg /Foto: Daniel Säwert

Frau Grjasnowa, während Ihres Studiums in Leipzig haben Sie 2007 mehrere Monate am Maxim-Gorki-Literaturinstitut in Moskau verbracht. Wie kam es dazu?

Eigentlich zufällig. Ich hatte damals am Deutschen Literaturinstitut studiert und der Rektor des Gorki-Instituts war zu Besuch. Ich hab ihn gefragt, ob ich kommen könnte und er meinte ja. Für mich war das damals eine Chance, mich mehr mit Russland auseinanderzusetzen, denn in Deutschland ist die zeitgenössische russische Literatur kaum bekannt. 

Wie haben Sie die Zeit in Moskau empfunden?

Ich weiß es nicht. Es war eine ganz komische Zeit. Für mich war es seltsam. Ich war das erste Mal so lange am Stück in Russland. Und ich habe gemerkt, dass mit mir irgendetwas nicht stimmt. Ich kenne zwar die Sprache und die Kultur, aber irgendetwas klappte da nicht. Ich habe damals erst gemerkt, wie kaukasisch ich eigentlich bin, oder was auch immer dieses Phantom Kaukasus sein soll. 

Kam die Erkenntnis, nicht russisch zu sein, aus Ihnen heraus oder aus dem russischen Umfeld?

Ich weiß ja immer noch nicht, was das heißen soll, russisch zu sein. Ich habe gemerkt, dass irgendwas mit meiner Sprache nicht stimmt. Ich verstehe zum Beispiel überhaupt keine Vulgärsprache. Da steige ich komplett aus. Sehr viele Sachen, wie Zeitungssprache, haben meinem Wortschatz komplett gefehlt. Ich wusste nicht mal, wie man eine E-Mail schreibt, wie man jemanden anredet. Das war noch vor dem Zeitalter, in dem man alles schnell bei Google übersetzen konnte. Es gab viele kleine linguistische Feinheiten, die mir gefehlt haben.

Freuen Sie sich auf die Rückkehr nach Moskau?

Ja! Ich bin so gespannt. Ich war seit 2007 nicht mehr in der Stadt und höre immer, wie sehr sich alles verändert hat.

Sie haben einmal gesagt, dass Sprache sowohl verbinden als auch trennen kann. Was macht das Russische?

Durch einen Sonderfall sprechen wir in der Familie vier Sprachen. Und wir haben keine einzige gemeinsame Sprache. Dadurch wird das Ganze kompliziert und einfacher. Ich spreche mit meinen Kindern nur Russisch und mein Mann spricht mit ihnen nur Arabisch. Da mein Mann auch kaum Deutsch kann, sprechen wir miteinander Englisch. Inzwischen ist es so, dass mein Mann Russisch auf dem Niveau der Kinder versteht und ich ebenso Arabisch. Trotzdem ist das keine aktive Sprachbeherrschung.

In Europa gibt es eine Sprachhierarchie. Es ist sehr wichtig, Englisch zu können. Auch Französisch und Spanisch werden anders betrachtet als Russisch oder Arabisch. Gerade in Deutschland herrscht hier ein unglaublich rückschrittliches Klima. Deswegen kann eine Sprache verbinden, wenn es die richtige ist, sie kann aber auch trennen.

Verfolgen Sie die zeitgenössische russische Literatur heute noch?

Ich versuche es. Aber ich glaube nicht, dass es funktioniert, auch weil ich auf Russisch sehr langsam lese. Mittlerweile lese ich sogar auf Englisch schneller, was ganz furchtbar ist. So habe ich Ljudmila Petruschewskaja erst vor drei Wochen durch den „New Yorker“ entdeckt. Und das finde ich eine Unverschämtheit. Heute habe ich mich dann mit der Werkausgabe eingedeckt. Aber trotzdem wusste ich nicht, dass sie existiert. Vor diesem Hintergrund will ich gar nicht wissen, was mir noch entgangen ist.

Ihre Bücher sind nicht ins Russische übersetzt. Warum?

Das liegt nicht an mir. Es muss sich immer ein Verlag finden, der die Rechte kauft und dann das Buch übersetzen lässt.

Würden Sie ihre Bücher gerne selbst übersetzen?

Nein. Auf gar keinen Fall. Schon allein, weil mir das Vokabular und die grammatikalische Struktur fehlen. Und bei der russischen Übersetzung bin ich auch weitaus pingeliger als bei anderen Sprachen. Bei einem Literaturfestival bin ich wegen der Übersetzung einmal fast ausgerastet. Ich glaube, es wird die Hölle, meine Romane ins Russische zu übersetzen.

Alle Ihre Romanhelden haben gebrochene Lebensläufe, sind ständig auf der Suche und scheinen rastlos zu sein. Dazu bewegt sich die Handlung ständig von Ort zu Ort. Ist dies das typische Sujet der Olga Grjasnowa?

So macht es beim Schreiben mehr Spaß für mich. Die Recherche ist der Lieblingsteil meiner Arbeit. Bei meinem zweiten Roman „Die juristische Unschärfe einer Ehe“ war es eine unheimlich gute Ausrede, um ein halbes Jahr lang die ganzen Ballettbücher durchzuschauen und Tänzer zu interviewen.

Zudem ist der Ortswechsel ziemlich gut für den Romanaufbau. Dieses Mittel erlaubt sehr viel, man kann dadurch eine Menge handwerklich lösen, was mir sehr entgegenkommt. Man kann schön beschreiben, das ist glaube ich, was mich interessiert. Das ist meine Art, den Roman zu strukturieren.

Trotz intensiver Recherche wurde Ihnen beim letzten Roman vorgeworfen, an der Oberfläche zu bleiben. Zu Recht?

Literaturkritik hat gewisse Mechanismen. „Gott ist nicht schüchtern“ wurde als „paniertes Gemüse“ bezeichnet. Ich habe acht Monate gebraucht, um durch ein Kinderbuch herauszufinden, was paniertes Gemüse ist. Man weiß nie, was als Kritik kommt, gerade als Frau. Entweder man recherchiert nicht genug oder es passiert den Kritikern zu viel.

Sie hat die Frage umgetrieben, warum Menschen fliehen müssen. Haben Sie eine Antwort gefunden?

Es ist noch nicht mal die Frage, was der Grund ist, sondern wie die Flucht funktioniert. Ich bin selbst nicht geflohen, bin aber mit der Fluchtgeschichte meiner Großmutter, die aus Weißrussland nach Baku kam, aufgewachsen. Und die heutige Situation ähnelt der damaligen, nur dass die Route auf die andere Seite des Mittelmeeres führt.

Und dann gibt es diese ewige Prämisse des „Nie wieder“, die in Deutschland sehr gefeiert wird. Aber spätestens seit 2015 ist klar, dass Flucht jederzeit geschehen kann. Das hat mich beim Schreiben vor allem umgetrieben.

Sie werden oft als Migrationsautorin bezeichnet.

Das finde ich ganz schlimm. Weshalb muss man die Migrationserfahrung an erster Stelle benennen? Ob ich nun mit elf Jahren eingewandert bin oder nicht, ich habe den ganz klassischen bildungsbürgerlichen Weg genommen. Es ist vielleicht wichtiger, dass ich am Literaturinstitut war. Jedes Mal, wenn erwähnt wird, dass ich eingewandert bin, ist das völlig umsonst. Das spielt überhaupt keine Rolle.

Migrationsliteratur ist eine Einteilung, die überhaupt keine linguistische oder kulturwissenschaftliche Grundlage hat. Früher gab es in der Germanistik Seminare zur Frauenliteratur. Diese wurden jetzt einfach durch Migrationsliteratur ersetzt. Dabei werden Menschen zusammengeworfen, die einfach nichts miteinander zu tun haben. Man hat es sich hier unheimlich einfach gemacht.

Das Thema Identität verfolgt Sie durch Ihr gesamtes Schaffen. Kann eine multiple Identität im Schreibprozess vorteilhaft sein?

Ich glaube, das ist völlig egal. Die Frage nach der Identität wird völlig anders gestellt. In meinem Leben, in meinem Alltag ist es egal, dass ich aus Aserbaidschan stamme. Manchmal ist es natürlich sehr gut, Russisch zu sprechen. Gerade bin ich aber Mutter von zwei Kleinkindern. Wie sieht mein Alltag aus? Ich muss mir überlegen, welche U-Bahn-Station einen funktionierenden Aufzug hat oder nicht. Und wie ich meine Kinder rechtzeitig in den Kindergarten kriege und wann wieder zurück. Das macht viel mehr meiner momentanen Identität aus als meine ganze Migrationsgeschichte.

Und ich hoffe, dass es in zehn Jahren wiederum völlig anders aussieht. Identitätsdiskurse sind fluide, sie ändern sich ständig. Deswegen finde ich eine gesicherte Identität langweilig.

Sie wollten eigentlich keine Romane schreiben. Jetzt ist bereits der dritte erschienen. Was kann man im vierten Roman erwarten?

Es wird ein historischer Roman sein, der in Dagestan und St. Petersburg zwischen 1830 und 1850 spielt. Es geht um den ältesten Sohn des Imam Schamil, der damals von den Russen gefangen genommen wurde und am Zarenhof aufwuchs. Mit Mitte 20 kehrte er zurück in den Kaukasus.

Das Thema ist so unglaublich dankbar. Es hat fast alle Konflikte, die mich interessieren. Da ist der moderne Dschihadismus, der damals erfunden wurde, aber auch der Vater-Sohn-Konflikt spielt eine große Rolle. Hier stelle ich mir das erste Mal die Frage der Identität. Erst jetzt habe ich ein richtiges Migrationsbuch geschrieben, erst jetzt schreibe ich ein richtiges Identitätsbuch. Ich mache eigentlich erst jetzt das, was die Leute schon die ganze Zeit von mir dachten.

„Der Russe ist einer der Birken liebt“. Ist der Russe auch einer, der Olga Grjasnowa liebt?

Sieht nicht so aus (lacht). Zumindest noch nicht. 

Die Fragen stellte Daniel Säwert

Zur Person

Olga Grjasnowa wurde 1984 in Baku geboren und zog 1996 nach Deutschland. 2011 beendete sie ihr Studium am Deutschen Literaturinstitut Leipzig. Während dieser Zeit veröffentlichte sie in Anthologien und Literaturzeitschriften. 2012 erschien ihr vielbeachteter Debütroman „Der Russe ist einer, der Birken liebt“. Im Jahr 2014 folgte „Die juristische Unschärfe einer Ehe“. 2017 erschien Grjasnowas dritter Roman „Gott ist nicht schüchtern“, der vom Krieg in Syrien und dem Leben als Flüchtling in Deutschland handelt. Grjasnowa erhielt für ihre Arbeiten mehrere Auszeichnungen.

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