„Er hat die Leute wirklich wütend gemacht“

Die Grenzen sind offen und es gibt keine Ausgehbeschränkungen: Der belarussische Präsident Alexander Lukaschenko widersetzt sich Maßnahmen im Kampf gegen Covid-19. Die MDZ sprach über die Gründe und möglichen Folgen dieser Politik mit dem Journalisten Franak Wiachorka.

Corona-Dissident: Alexander Lukaschenko bezeichnet Covid-19 als eine „Psychose“. (Foto: mtdata.ru)

Präsident Lukaschenko empfiehlt Wodka, viel frische Luft und Treckerfahren gegen das Virus. Glaubt er das wirklich?

Schwer zu sagen, ob Lukaschenko das glaubt. Ich vermute eher ein politisches Ziel. Wahrscheinlich hofft er, dass die Situation einfach vorübergeht und er das politisch überlebt. Wenn es ihm gelingt, dass weniger Menschen als in den Nachbarländern sterben, kann er sagen: Sehen Sie, ich hatte recht! Die hatten alles geschlossen – und es hat ihnen trotzdem nichts gebracht. Wahrscheinlich tut er das auch aus Trotz gegenüber Russland, Brüssel und Warschau. Das ist so ein psychologischer Ansatz, um zu zeigen: Wir sind anders. Wir werden nie euren Weg gehen!

Analysten erklären Lukaschenkos Verweigerungshaltung vor allem mit der Furcht vor wirtschaftlichen Folgen einer Quarantäne …

Natürlich. Und das hätte politische Folgen. Denn bald finden Präsidentschaftswahlen statt. Und vor jeder Wahl erhöht er Renten und Löhne, um zu demonstrieren, dass im Land Stabilität herrscht. Lukaschenko hält die Folgen einer ökonomischen Krise für größer, als die von Corona-Todesfällen. Dabei steht Belarus ökonomisch im Vergleich mit Staaten wie Moldau, der Ukraine oder Kasachstan gut da. Warum können dann diese Staaten Maßnahmen verhängen, obwohl es ihnen wirtschaftlich nicht besser geht? Das ist so ein Mythos: Wenn die Fabriken geschlossen werden, zerfällt alles. Und mit der Nichtverhängung der Quarantäne retten wir die Wirtschaft. Tatsächlich verlängern wir damit aber die Krise. Und da wieder herauszukommen, ist schwieriger und dauert länger.

Wie reagiert die belarussische Bevölkerung auf den Kurs des Präsidenten? Wird der offiziellen Version Glaube geschenkt?

Die absolute Mehrheit der Menschen – und zwar sowohl Anhänger als auch Gegner von Lukaschenko – denken, dass zu wenig unternommen wird. Nach aktuellen Umfragen halten 70 Prozent eine Quarantäne für notwendig. Das ist ein interessanter Fakt: Lukaschenkos Politik hat die Menschen gegen ihn und das Coronavirus mobilisiert. Die Leute nehmen die Sache jetzt in die eigenen Hände. Privatfirmen, IT-Unternehmen und Firmen mit westlichem Kapital schließen und schicken die Mitarbeiter in die Selbst­isolation. Bürger sammeln auf eigene Kosten Masken, weil die Regierung keine an die Krankenhäuser ausgibt. Kürzlich haben IT-Firmen 800 000 Masken an Kliniken übergeben, in denen Corona-Kranke behandelt werden. Das absolut inadäquate Management der Regierung hat zu einer Aktivierung der Gesellschaft geführt und zu einer Welle der nationalen Solidarität.

Belarussische Online-Medien schreiben auch von einer stillen Panik im Land …

Ja, das gibt es. Vor allem bei Berufsgruppen mit vielen Kranken. Also unter Ärzten oder Lehrern, die man gezwungen hat, weiter zu unterrichten. Aber auch in manchen Dörfern, in denen jeder Zweite erkrankt ist. Es gibt Dörfer mit einer Sterblichkeit von 15 Prozent unter Corona-Kranken. In Minsk, wo die Leute zuhause sitzen und das nicht in Echtzeit sehen, ist die Situation aber ruhig. Es sind natürlich weniger Menschen draußen. Vor allem Junge und Rentner. Aber alles ist absolut ruhig.

Wird Lukaschenko seine Haltung ändern, falls sich die Lage um das Virus dramatisch verschärft?

Er hat seine Haltung auch nicht geändert, als die Zahl der Kranken stieg und es täglich mehrere Tote gab. Im Gegenteil: Lukaschenko hat seine Rhetorik sogar noch verstärkt und versprochen, dass niemand an Corona stirbt. Das hat die Menschen gegen ihn aufgebracht und wirklich wütend gemacht. Deshalb ist das für ihn jetzt schon eine prinzipielle Frage, er wird das nicht mehr ändern. Höchstens wenn er selbst oder jemand in seiner Umgebung erkrankt, gibt es vielleicht Bewegung.

Sie haben es bereits erwähnt: Im Herbst finden in Belarus Präsidentschaftswahlen statt. Lukaschenko tritt dabei bereits zum sechsten Mal an. Wird die Opposition den beschriebenen Unmut gegenüber Lukaschenko für sich nutzen können?

Es fällt mir sehr schwer zu prognostizieren, wie sich die Situation entwickeln wird. In der aktuellen Situation ist es sogar vorstellbar, dass die Wahlen vorgezogen und schnell im Sommer durchgeführt werden. Es gibt riesige Wut auf Lukaschenko und er hat ein wirklich schlechtes Rating. Ob die Opposition – oder Russland – diesen Moment nutzen kann und ob der Coronavirus die Menschen politisch mobilisiert, ist schwierig zu sagen. Wahlen sind in Belarus über die Jahre zu einer solchen Formalität geworden, dass die Menschen sie teilweise gar nicht mehr wahrnehmen. Ich könnte mir auch vorstellen, dass die ökonomische Krise, die nach dem Virus kommen wird, politische Proteste hervorruft – völlig unabhängig von den Wahlen. Massenunruhen unter Lehrern, Ärzten und Oppositionsaktivisten könnten sich in ganz Belarus zu Massenunruhen erheben. Die Explosion kann viel früher kommen als die Wahlen.

Die Fragen stellte Birger Schütz

Der Journalist Franak Wiachorka

Franak Wiachorka arbeitet als Journalist und Drehbuchautor in der belarussischen Hauptstadt Minsk. Er war unter anderem für den Fernsehkanal Belsat tätig, der von der polnischen Regierung ausgestrahlt wird und belarussischen Zuschauern eine Alternative zum Staatsfernsehen bieten soll. Später wechselte Wiachorka in die Abteilung Neue Medien des belarussischen Dienstes des US-finanzierten Radio Free Europe/ Radio Liberty. Sein Vater ist Walentin Wiachorka, der frühere Leiter der oppositionellen Belarussischen Nationalen Front (BNF).

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