Einblick und Überblick: Aktuelle Bücher zur Oktoberrevolution

Fünf Bücher, eine Botschaft: Revolution, Krieg und Chaos gehören unmittelbar zusammen, ein noch so hoffnungsvoller Umsturz endet in Gewalt und Gemetzel. Das könnte Zufall sein. Oder das, was im kollektiven Gedächtnis von der Revolution übrig geblieben ist.

Stephen A. SmithAuch für Einsteiger: Stephen Smith

Es gibt Zahlen, die sind im Geschichtsunterricht bei jedem hängengeblieben. 1917 gehört dazu: Epochenjahr, Kriegseintritt der USA und Oktoberrevolution. Dass sich die Russische Revolution jedoch nicht auf die eine Zahl festlegen lässt, macht der britische Historiker Stephen Smith bereits im Untertitel deutlich: „Revolution in Russland. Das Zarenreich in der Krise 1890–1928.“

Smith gilt als einer der renommiertesten Russlandhistoriker der Welt. Gelobt wird er vor allem dafür, dass er sich auf viele russische Quellen stützt. In seinem nun von Michael Haupt übersetzten Buch beschreibt er einen langen Zeitraum verschiedener sozialer, militärischer und wirtschaftlicher Entwicklungen, die letztlich zur Revolution führten. Beim Lesen fühlt man sich ins Klassenzimmer zurückversetzt. Strukturiert arbeitet der Autor Kapitel für Kapitel die einzelnen gesellschaftlichen Bereiche in verständlicher Sprache ab. Das zusammenfassende Tafelbild fehlt, doch man kann es sich bildhaft vorstellen.

Geopolitik, Gesellschaft und Gewalttaten

Besonderen Wert legt Smith auf die Beschreibung der Situation der Bauern. Er vertritt nämlich die Ansicht, dass die Bauernschaft noch viel entscheidender für den Verlauf der Revolution gewesen sei, als allgemein angenommen wird. Entstanden ist ein Gesamtwerk, das die Geopolitik zur Jahrhundertwende genauso detailliert beschriebt wie die Religiosität in der Gesellschaft oder die Gewalttaten der Roten und Weißen im Bürgerkrieg. Bildlich vorstellen kann man sich die historischen Persönlichkeiten, die er charakterisiert. So wird der junge Lenin entgegen der allgemeinen Auffassung nicht so sehr als „bedeutender Theoretiker“ dargestellt, sondern eher als „unermüdlicher Aktivist“. Trotzki wird als flexibler Taktiker und arroganter Militärstratege skizziert.

Als störend empfinden könnte man manchen chronologischen Sprung in dem ansonsten sehr durchstrukturierten Geschichtsbuch. Wer Lust hat, seinen Geschichtsleistungskurs nachzuholen und einiges darüber hinaus zu erfahren, ist bei Smith genau richtig. Wem es reicht, Jahreszahl und Narrativ zu kennen, der lässt besser die Finger von diesem Buch.

Revolution in Russland. Das Zarenreich in der Krise 1890–1928. Verlag Philipp von Zabern, Darmstadt 2017. Gelesen von Nico Tielke.


Sentimentale ReiseNur für starke Nerven: Viktor Schklowskij

Wie er Weltkrieg, Revolution und Bürgerkrieg an verschiedenen Enden des Imperiums erlebte, beschreibt Viktor Schklowskij in seinem autobiografischen Buch „Sentimentale Reise“. Dabei erinnert er zuweilen ein wenig an den „Braven Soldaten Schwejk“. Allerdings erzählt er nicht aus der Sicht eines kleinen Soldaten, der durch den Weltkrieg stolpert, sondern aus der Perspektive eines Kommissars. Doch dieser kann – und das macht die Geschichte umso tragischer – auch nicht viel mehr ausrichten als ein einfacher Soldat. So heißt es zum Beispiel: „Der Kommandeur des Regiments erstattet Meldung: Gestern ist die und die Kompanie desertiert, gestern hat die und die in Panik das Feuer auf die eigenen Leute eröffnet.“

Schklowskij war von 1917 bis 1922 selbst in teils widersprüchlichen Funktionen an Revolution und Bürgerkrieg beteiligt. Im Sommer 1917 fuhr er als Kommissar der Revolutionsregierung an die russisch-österreichische Front. Dort versuchte er, die kriegsmüden Truppen zum Angriff zu motivieren, vergeblich allerdings: „Es hagelte Beschwerden. Wie sich herausstellte, bestand das Bataillon aus Berufssoldaten, Unteroffizieren, die vor dem Chaos in ihren Einheiten geflohen waren. Aber in der neuen Einheit stießen sie auf dasselbe Chaos, nur lag es diesmal nicht am fehlenden Willen der Soldaten, sondern an der allgemeinen organisatorischen Unfähigkeit.“

Ausführlich und schonungslos

Während des Oktoberumsturzes hält sich der Autor an der persisch-osmanischen Front auf, wo er sich und dem Leser einen Überblick über eine äußerst unübersichtliche Lage verschafft: „Aserbaidschan und ein Teil von Kurdistan – das war das Gebiet, das unsere Truppen besetzt hielten. Die Bevölkerung war gemischt: Perser, Armenier, Tataren, Kurden, nestorianische Assyrer, Juden. All diese Stämme hatten seit jeher ziemlich schlecht zusammengelebt. Dann kamen die Russen, und die Lage änderte sich. Sie wurde noch schlechter.“

Ausführlich und oft schonungslos schildert er die Verhältnisse vor Ort: „Wo immer wir uns aufhielten, streiften Kinder von vielleicht fünf Jahren um unser Lager herum, die nur einen schwarzen, hemdartigen Fetzen am Leib hatten; ihre Augen eiterten und waren übersät mit Fliegen. Gebückt kramten sie im Abfall, mechanisch, wie müde Tiere, auf der Suche nach etwas Essbarem. Nachts scharten sie sich um die Küchen und wärmten sich. Einige wenige, meist die Älteren, wurden als Laufburschen in eine Mannschaft aufgenommen; die Übrigen starben so still und langsam, wie nur unendlich zähe Menschenwesen es tun.“

Warnung vor Chaos und Gewalt

Sucht man nach dem Grund für all das Chaos und die Gewalt, landet man bei Viktor Schklowskij wieder bei der Revolution, die für ihn eine Art Urkatastrophe darstellt. Er reist Mitte Januar 1918 zurück nach Petrograd, um sich am bewaffneten Kampf gegen die Bolschewiki zu beteiligen. Über die Rückkehr in die Stadt schreibt er: „Der erste Eindruck bei der Ankunft: wie sich die Leute auf das mitgebrachte Weißbrot stürzten. Der zweite: Die Stadt war wie taub. Wie nach einer Explosion, wenn alles vorbei ist, alles in Stücke gerissen. Wie ein Mensch, dem eine Explosion die Eingeweide zerfetzt hat, aber er redet noch. (…) Die Konstituierende Versammlung war aufgelöst. Eine Front gab es nicht mehr. Überhaupt stand alles sperrangelweit offen. Und nirgends eine Spur von Alltag, nur Trümmer.“

Man kann dieses Buch aus heutiger Sicht auch als Warnung vor Chaos und Gewalt lesen, wenn der Autor schreibt: „Die Revolution ging nicht bergauf, sondern bergab.“

Sentimentale Reise. Aus dem Russischen von Olga Radetzkaja. Die Andere Bibliothek, Berlin 2017. Gelesen von Corinna Anton.


Das schwarze PferdFür Zweifler: Boris Sawinkow

Bei Boris Sawinkow stehen die Folgen der Revolution im Vordergrund. „Das schwarze Pferd“ ist ein „Roman aus dem Russischen Bürgerkrieg“, wie der Untertitel besagt. Verfasst hat ihn der Autor 1923 im Exil in Paris. Er selbst beschrieb sein Werk im Vorwort zur russischen Ausgabe als weder biografisch noch fiktiv. Vielmehr habe er einfach geschildert, „was ich selbst erlebt oder von anderen gehört habe“.

Und er tut das extrem nüchtern, sehr sachlich im Ton, ohne Mitgefühl – aber gerade deswegen an vielen Stellen umso eindringlicher. So schreibt er zum Beispiel: „Gestern wurde in meinem Garten Nasarenko gehängt. Er hatte nicht gestanden. Er hatte sich bloß wie ein wundes Tier in der Küche verkrochen.“

Ein glücklicher Diener Russlands

Sawinkow, geboren im Jahr 1879, war zunächst Mitglied der terroristischen Kampforganisation der Sozialrevolutionäre, distanzierte sich dann aber, wurde Publizist in Frankreich unter dem Pseudonym W. Ropschin, später stellvertretender Kriegsminister der Provisorischen Regierung unter Alexander Kerenski und schließlich Militärberater der Weißen-Armee-Generäle und Guerilla gegen die Sowjetmacht. Sein Protagonist ist zunächst ein Oberst der Weißen Garde. Später sagt er: „Ich bin ein Grüner. (…) Ich bin glücklich, weil ich ein Diener Russlands bin.“

Er gehört somit zu „jener vergessenen dritten Kriegspartei, die sich aus der Bauernschaft rekrutiert und basisdemokratische Verhältnisse anstrebt“, wie der Übersetzer Alexander Nitzberg in seinem Nachwort erklärt. Überhaupt sind das Nachwort und die umfangreichen Anmerkungen des Übersetzers sehr hilfreich für alle, die tiefer in die Wirren von Revolution und Bürgerkrieg und in Sawinkows Biografie einsteigen wollen. Sie liefern die Fakten, während der Roman eher Fragen aufwirft: „Und fort geht der endlos öde Streit. Worüber streiten sie in Gottes Namen? … Die Weißen sind Kadaver, doch auch die Grünen sind alles andere als Engel, und die Roten nichts weiter als morsche Gräber. Das neue Leben? … Ja, irgendwo entsteht es. Fragt sich nur, wo?“

Geschichte ohne Moral

In einem anderen Kapitel heißt es: „Wer ist für Russland? Wer ist dagegen? … Wir? … Die? … Oder wir und die?“ Der Erzähler übt stellenweise ausdrücklich Kritik an den Kommunisten: „Was habt ihr versprochen? – Friede den Hütten, Krieg den Palästen. Aber die Hütten, die lasst ihr brennen und in den Palästen betrinkt ihr euch.“ Eine Moral von der Geschicht, eine eindeutige Parteinahme gibt es nicht, denn: „Die Wahrheit zu kennen, ist keinem gegeben. Und was wir wissen, ist zwiegeteilt. Einen Teil haben wir, den anderen die anderen.“

Dem Autor nützt diese Erkenntnis allerdings wenig. Er selbst wird einige Monate nach Erscheinen seines Romans in Russland verhaftet und im August 1924 als Staatsfeind verurteilt. Auch sein Schlusswort im Prozess hat Nitzberg für die neue Romanausgabe übersetzt. Darin bietet Sawinkow die Zusammenarbeit an und kann so sein Todesurteil in eine Haftstrafe umwandeln. „Um euch das zu sagen, was ich, Boris Sawinkow, euch hier und heute gesagt habe, nämlich dass ich ohne Wenn und Aber die Sowjetmacht annehme, musste ich, Boris Sawinkow, weit mehr erleiden als das, wozu ihr mich heute verurteilen werdet.“ Am 7. Mai 1925 stürzt der Schriftsteller aus dem fünften Stock des Lubjanka-Gefängnisses in Moskau und stirbt.

Das schwarze Pferd. Roman aus dem Russischen Bürgerkrieg. Aus dem Russischen übersetzt, kommentiert und mit ergänzendem Material versehen von Alexander Nitzberg. Galiani, Berlin 2017. Gelesen von Corinna Anton.


Blut und FeuerFür Anspruchsvolle: Artjom Wesjoly

Artjom Wesjoly führt den Leser in „Blut und Feuer“ durch den Ersten Weltkrieg, die Oktoberrevolution und den Bürgerkrieg. Anfangs hoffen die Soldaten und Bauern noch, dass sich ihre Lebensumstände bessern. Sie alle werden jedoch schnell durch Chaos und Terror enttäuscht.

Im Verlauf der Geschichte lernt der Leser individuelle Schicksale kennen, die jedoch den historischen Ereignissen untergeordnet sind. Wesjoly lässt die Charaktere ohne Vorgeschichte auftauchen und sogleich im historischen Strudel wieder untergehen. Gleich zu Beginn des Buches wird der Leser in das gewaltgetränkte Geschehen gestoßen: „Vom Orkan des Krieges erschüttert, wankte die Welt, trunken von Blut. (…) Die Sichel des Krieges schnitt des Lebens Ähren. (…) Über der ganzen Welt wehten die Fahnen des Kummers, wie der Widerschein einer gewaltigen Feuersbrunst stand Stöhnen, quälend flackerten herzzerreißende Verzweiflungsschreie.“

Vom Weltkrieg zur Revolution

Mit dem erklärten Ziel, die Wahrheit über das Leben in Revolution und Bürgerkrieg aufzudecken, weicht der Autor von der traditionell übersichtlichen Figurenkonstellation im Roman ab. Protagonisten, mit denen man sich identifizieren kann, sucht man als Leser vergebens. Der erste Teil erzählt aus der Perspektive der hoffnungsvollen Soldaten den Umschwung vom Ersten Weltkrieg zur Revolution.

Darauf folgen zwölf „Etüden“, in welchen verschiedene Aspekte des Bürgerkriegs beleuchtet werden. Eine davon stellt den jungen Filka vor, der letztendlich in der Tscheka, dem Organ des roten Terrors, Karriere macht – in vorherigen Ausgaben war nur von „militärischer Karriere“ die Rede. Im letzten Teil des Buches werden die Verhältnisse in der Stadt und auf dem Land gegenübergestellt, nachdem die kommunistische Regierung die Macht an sich gerissen hat.

Aus eigener Erfahrung

Hilfreich für eine geschichtliche Orientierung sind die historischen Erläuterungen in den Fußnoten. Ohnehin sind geschichtliche Vorkenntnisse ratsam, um dem roten Faden des Werkes folgen zu können, das sicherlich keine leichte Kost ist, aber für zeitgeschichtlich Interessierte definitiv zu empfehlen, da Wesjoly den Roman aufbauend auf eigenen Erfahrungen geschaffen hat.

1899 als Sohn eines Lastenträgers geboren, lernt er als Erster in der Familie lesen und schreiben, bevor er in einer Fabrik schuftet. Als 19-Jähriger tritt er in die Rote Garde ein. Später arbeitet er als Kriegsreporter. 1920 beginnt er seinen Roman „Russland in Blut gewaschen“, der zwischen 1932 und 1936 mehrmals in unterschiedlichen Fassungen erscheint, jedoch immer unvollständig. 2017 schließlich publizierte der Aufbau-Verlag Thomas Reschkes Neuübersetzung mit bisher unbekannten Textstellen und neuem Titel.

Blut und Feuer. Aus dem Russischen von Thomas Reschke. Aufbau-Verlag, Berlin 2017. Gelesen von Beatrice Braunschweig.


AustFür Experten: Martin Aust

Einen detailreichen und weiten Blick auf die Russische Revolution gibt Martin Aust. Der Professor für osteuropäische Geschichte an der Universität Bonn beginnt im Jahr 1905, um nach 138 Seiten Vorgeschichte schließlich im Oktober 1917 anzukommen. Das ist keinesfalls überflüssig, denn natürlich muss man weiter vorne anfangen, wenn man die Oktoberrevolution nachvollziehen will. Außerdem schaut Aust sehr ausführlich auch in die entlegenen Regionen des Zarenreiches.

Einen „Prolog zur Revolution“ gab es laut Aust im Sommer 1916 in Zentralasien: „Im Generalgouvernement Turkestan erschütterte ein Aufstand der Kasachen, Kirgisen und Turkmenen, der Muslime und Nomaden die dortige Kolonialherrschaft Russlands. (…) Auslöser des Aufstandes in Zentralasien war die Einberufung der bis dahin vom Militärdienst befreiten Autochthonen in die Etappe hinter den russischen Frontlinien.“

Kongress der kleinen Völker

Beachtung finden in dem Buch auch die „Mobilisierung und Politisierung“ der „kleinen Völker Russlands“ im Laufe des Jahres 1917. „Auf der Krim grenzten sich die Krimtataren von Russen und Ukrainern ab und forderten Autonomie. Nordkaukasische Bergvölker suchten den Schulterschluss mit konservativen Kosaken in Abgrenzung von den russischen Kolonisten. (…) Im Mai 1917 kam an der Wolga ein Kongress der kleinen Völker zusammen. Čuvašen, Čeremissen, Votjaken, Mordvinen, Syrjänen, Kalmücken und getaufte Tataren schickten 500 Delegierte.“

Doch auch in anderen Bereichen schildert Aust die zunehmenden Probleme und schließt daraus: „In einem kräftezehrenden Krieg, im Angesicht einer zerfallenden Gesellschaft und einer unbeherrschbaren Ökonomie überraschte es eher, dass die Provisorische Regierung bis zum Herbst Bestand hatte, als dass sie schließlich fiel.“

Wann endet die Revolution?

Die folgende Errichtung der Räteregierung war für die Masse laut Aust der „Kern der Revolution“, für die Bolschewiki jedoch „allein die ersten Schritte“. Das führt ihn zu der These, dass sich „die gesamte spätere Sowjetgeschichte (…) als Versuch der Bolschewiki begreifen (lässt), der Masse mit Bildung, Propaganda und Gewalt ihre Visionen aufzuzwingen“.

Doch wann endete die Russische Revolution, fragt der Historiker und setzt den Schlusspunkt selbst – nach einer Bilanz des Bürgerkriegs und einem Exkurs über die Nationalitätenpolitik der Bolschewiki – Ende der Zwanzigerjahre. Er spannt aber auch einen Bogen ins Jahr 2017. „Die offizielle Geschichtspolitik in Putins Russland hat verschiedene Versatzstücke zarischer und sowjetischer Vergangenheit besonders eigenwillig zu einem russländischen Identitätsangebot kombiniert.“ Präsident Putin habe „keine Skrupel, einerseits den nach Russland umgebetteten Gebeinen des Generals der Weißen, Denikin, einen Besuch abzustatten, der im Bürgerkrieg gegen die Bolschewiki gekämpft hatte, und andererseits das Ende der Sowjetunion als die größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts zu bezeichnen.“

Die Russische Revolution. Vom Zarenreich zum Sowjetimperium. C.H.Beck, München 2017. Gelesen von Corinna Anton

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