
Um zur Chitrowka zu gelangen, muss man mit der Metro bis Kitai-Gorod fahren, in Richtung der Soljanka, und auf dieser Straße dann ungefähr 10 Minuten zu Fuß gehen, dann kommt man direkt zum Chitrowka-Platz. Hier befand sich früher ein Markt, wo man bei dern Bewohnern der Chitrowka die gestohlenen Sachen der vertrauensseligen Einwohner anderer Stadtbezirke kaufen konnte.
Das Doppelleben des Stadtbezirks
Die Geschichte der Chitrowka begann im Jahre 1824, nachdem sie nach dem Brand von 1812 vollständig wiederhergestellt worden war (Moskau wurde vor dem Einmarsch Napoleons angezündet). Die Kosten und Mühen des Wiederaufbaus übernahm der ehrenhafte Generalmajor Nikolaj Chitrowo. Er schenkte den Platz der Stadt, der dann nach seinem Schöpfer und Spender benannt wurde.
In den 1860er Jahren baute man ähnlich der heutigen Arbeitsämter die Arbeitsbörse der Chitrowka. Die Menschen kamen aus allen Ecken und Enden Moskaus, um Arbeit zu finden. Das waren Arbeiter und Bauern, aber auch arbeitslose Intelligenzler. Aber nicht alle konnten Arbeit finden und ihren Lebensunterhalt verdienen. Viele blieben in den billigen Wohnungen und Häusern in der Nähe des Platzes, die für mittellose Familien errichtet worden waren. Hier siedelten sich auch Kneipen, Tavernen und Wohltätigkeitsorganisationen an.
Nach Aufhebung der Leibeigenschaft verschlechterte sich die Lage auf dem Arbeitsmarkt rapide. Es mangelte an qualifizierten Arbeitskräften, die ehemaligen Leibeigenen jedoch verfügten nicht über die nötige Erfahrung. Aufgrund der großen Anzahl von Arbeitslosen veränderte sich die Lage in der Chitrowka, sie wurde kriminell und gefährlich: unerträgliche Hygienebedingungen, ringsum nur Diebe, Mörder und Bettler. Hier ließ sich sogar die Polizei nicht oft sehen. Brave Bürger machten einen großen Bogen um diesen Platz. So entstand die neue, die Chitrowka der Diebe.

Aufzeichnungen von Giljarowskij
Die detaillierteste Beschreibung dessen, was damals in diesem Bezirk vor sich ging, kann man bei dem bekannten Schriftsteller, Dichter, Feuilletonisten und Journalisten Wladimir Giljarowskij in seinem Buch „Moskau und die Moskauer“ nachlesen. Giljarowskij war einer der wenigen Zeitungsleute, die sich nicht fürchteten, dorthin zu gehen. Er fand Zugang zu Spitzbuben, flüchtigen Verbrechern, Säufern und Bettlern, die ihm nichts taten und ihn in Ruhe ließen, wenn er sie beobachtete.
In der Chitrowka gab es viele Nachtasyle, die in Häusern bekannter Moskauer Familien eingerichtet worden waren. Sie verschlossen die Augen vor den Untaten ihrer Bewohner, denn die „Mieter“ garantierten ihnen stabile Einnahmen. Die Absteigen waren nebenbei bemerkt von der allerniedersten Sorte, Pritschen ohne Bettwäsche, für die Lumpen, in denen die Einheimischen herumliefen, herhalten mussten. Als luxuriöse Unterbringung galten die „Zimmer“, in denen zwei auseinanderstehende Betten durch einen schmutzigen Fetzen getrennt waren. Natürlich gab es keinerlei Hygiene.
Giljarowskij erzählt, dass der athletisch gebaute Rudnikow der einzige Polizist war, der mit der örtlichen Bande fertigwurde. Er hatte mit den Bewohnern eine Art Abmachung, er lieferte flüchtige Verbrecher nicht aus, verschloss die Augen vor lokalen Auseinandersetzungen und wurde im Gegenzug nicht angerührt, manchmal half man ihm sogar bei der Aufklärung von Kapitalverbrechen.
„Zwangsarbeit“ und „Sibirien“
Natürlich ist ein solcher Bezirk ohne Kneipen und Tavernen nicht vorstellbar. Als bekannteste von ihnen galt „Zwangsarbeit“, ein Schmelztiegel der Ausschweifung und Sauferei. Hier versammelten sich die Gangsterbosse Moskaus. Diese Typen wurden in der Chitrowka geachtet und respektiert. Jeder, der aus Sibirien in die „Zwangsarbeit“ zurückkehrte, erhielt hier eine Arbeit, was als höchstes Maß an Ehre und Erfolg galt.
Im Rumjanzew-Haus, welches unweit des Chitrowka-Platzes steht, befanden sich im ersten Stock zwei Wirtshäuser – „Durchgangsgefangener“ und „Sibirien“ – deren Namen sich die Bewohner ausgedacht hatten. Giljarowskij schrieb, dass sich im „Durchgangsgefangenen“ vor allem Obdachlose und Bettler versammelten, und dementsprechend ging es dort verhältnismäßig anständig zu. Die Gangsterbosse bevorzugten das „Sibirien“. Witzigerweise befindet sich heute im Rumjanzew-Haus die australische Botschaft.

Mit der Sowjetmacht kam das Ende der Chitrowka – der Markt wurde entfernt (heute ist an seiner Stelle ein kleiner Park), die Bewohner der Absteigen wurden ausgesiedelt, nach der Renovierung zogen Arbeiter ein. Heute ist das ein sauberer und respektabler Stadtteil, und seine Schrecken gibt es nur noch in den Erzählungen der Stadtführer.
Ljubawa Winokurowa