Ob Plombir, Lakomka oder Eskimo: Bei sommerlich hohen Temperaturen kühlen sich die Moskauer gern mit Eissorten ab, die schon zu Sowjetzeiten verbreitet und beliebt waren und Ältere an ferne Kindheitstage erinnern. Dass die Geschichte der kalten Retro-Köstlichkeiten aufs Engste mit dem früheren Klassenfeind USA verknüpft ist, weiß allerdings nicht jeder.
Begonnen hatte alles in den 1920er Jahren. Damals verkauften Händler Vorläufer der heutigen Eiscreme aus mobilen Kühlwagen, die sie durch die Straßen der Hauptstadt schoben. Jedoch ließ die Hygiene der beräderten Eistruhen oft noch zu wünschen übrig. Staub von der Straße oder verschmutzte Kühl-Eisblöcke trübten manches Mal das Naschvergnügen. Zudem konnte die gefrorene Leckerei aus Milch und Zucker nur in bescheidenen Mengen hergestellt werden. Die süße Masse musste man zumeist noch umständlich von Hand anrühren.
Dies sollte sich allerdings schon bald ändern. Denn zu Beginn der 1930er Jahre ging die sowjetische Milchindustrie zur industriellen Herstellung von Speiseeis über. Den Anfang machte dabei die „Moskauer Milchfabrik Glawmoloko“, die schon im Jahr 1932 rund 300 Tonnen Eis herstellen konnte. Im selben Jahr wurde in Leningrader und Moskauer Geschäften auch erstmals das legendäre Eskimo-Stieleis angeboten, stilecht in eine Verpackung aus Silberfolie gewickelt.
Die USA als Vorbild der Speiseeis-Produktion
Schnell zogen Milchbetriebe im ganzen Land nach und nahmen eigene Fertigungslinien zur Eisproduktion in Betrieb. Auch die notwendigen Kühltruhen produzierten die Sowjets seit der ersten Hälfte der 1930er Jahre in Moskau und Leningrad selbst. Vorangetrieben wurde die Initiative von Anastas Mikojan, der Speiseeis zu einem günstigen Lebensmittel für die sowjetischen Massen machen wollte.
„Ich agitiere für Eiscreme, da diese lecker und nahrhaft ist“, erklärte der ehrgeizige Minister für Lebensmittelindustrie und Versorgung im Jahr 1936. Jeder Bürger solle jährlich fünf Kilo der kalten Süßspeise verzehren können. Allerdings sei man von diesen Zahlen noch weit entfernt, musste Mikojan in derselben Rede mit Zähneknirschen zugeben. „In Amerika werden mehr als 600 000 Tonnen Eis im Jahr hergestellt, und bei uns nur 20 000.“
Um die ambitionierten Pläne voranzutreiben, wurde Mikojan daher im Sommer 1936 von Stalin in die USA geschickt. Zwei Monate fuhr der sowjetische Minister mit einer Wirtschaftsdelegation durch das Land, um die boomende Lebensmittelindustrie des kapitalistischen Wirtschaftsgiganten aus nächster Nähe zu studieren. Der wißbegierige Politiker besuchte Fabriken zur Herstellung von Fisch- und Brotkonserven, inspizierte automatisierte Cafeterien sowie riesige Kühlräume für Lebensmittel. Seine Eindrücke hielt er in detaillierten Aufzeichnungen fest, um das Gesehene später in der Sowjetunion umsetzen zu können.
Der Besuch in New York inspirierte Mikojan
Auch eine Eisverkostung in New York gehörte zu der ausgedehnten Tour. Mikojan zeigte sich vor allem von den Geschmacksrichtungen Frucht, Vanille und Sahne schwer begeistert. Umgehend veranlasste er den Kauf amerikanischer Produktionstechnik und ließ diese in die Sowjetunion schaffen.
Ein Jahr später – am 4. November 1937 – stellte man in Moskau das erste Stieleis für die Massen her. Anschließend entstanden weitere Fabriken in Moskau, Leningrad und Charkow. Auf den Straßen tauchten immer mehr Eisverkäuferinnen auf. Die Sowjetunion stieg innerhalb weniger Jahre zu einem der größten Speiseeisproduzenten der Welt auf. Bis zu 450 000 Tonnen der Süßspeise wurden pro Jahr hergestellt. Eis sei Mikojan wohl wichtiger als Kommunismus, soll Stalin angesichts des ambitionierten Vorhabens einmal gestichelt haben.
Dass der Geschmack der kalten Delikatesse bis heute vielen im Gedächtnis geblieben ist, liegt auch an einem besonders strengen Qualitätsstandard. Dieser wurde im Jahr 1941 von der staatlichen Prüfstelle GOST eingeführt. Gemäß „GOST 117“ durfte Eiscreme nur aus reiner Milch und natürlichen Zutaten bestehen. Die Verwendung von Konservierungsstoffen hingegen war verboten. Die Einhaltung der Vorschrift wurde streng kontrolliert.
Birger Schütz