Mit Bleifuß durch die Stadt

Im kommenden Jahr soll mit dem Schnelldurchmesser eine neue Stadtautobahn eröffnet werden. Das Rathaus spricht von Entlastung des Zentrums und kürzeren Fahrzeiten. Kritiker sprechen hingegen von steigenden Umweltbelastungen und Problemen für die Anwohner.

Im Norden Moskaus ist ein Teil der neuen Stadtautobahn bereits freigegeben. (Foto: stroi.mos.ru)

Massiver Metroausbau, S-Bahn und die größte Flotte von Elek­trobussen in ganz Europa – Moskaus Bürgermeister Sergej Sobjanin genießt einen guten Ruf als Verkehrspolitiker. In den zehn Jahren seiner Amtszeit hat er den Nahverkehr der russischen Hauptstadt zu einem der weltweit besten gemacht. Vor der Pandemie waren 70 Prozent der Einwohner in der Zwölf-Millionen-Metropole mit Bus und Bahn unterwegs. Dabei sind die immer beliebter werdenden Leihfahrräder und E-Scooter noch nicht mit eingerechnet.

Ende Januar bewies Sobjanin jedoch, dass er auch anders kann. In seinem Blog schrieb er, dass man bald noch bequemer von einem Ende der Stadt ans andere kommen werde. Es war aber nicht eine neue Metro-Linie, die der Bürgermeister als „neue Verkehrsrealität“ anpries, sondern eine Autobahn. Bereits 2023 soll der sogenannte Moskauer Schnelldurchmesser auf 68 Kilometern bestehende Schnellstraßen im Nordosten und Südosten miteinander verbinden. Innerhalb von 40 Minuten sollen Autofahrer so künftig Moskau durchqueren können.

Alte Idee aufgewärmt

Die Idee zur neuen Straße stammt noch aus der Sowjetunion, genauer gesagt aus dem Generalplan von 1971. In den 1990er Jahren zog der damalige Bürgermeister Juri Luschkow die alten Pläne aus der Schublade und wollte sie im sogenannten Vierten Verkehrsring verwirklichen. Als Sobjanin sein Amt antrat, begrub er das Projekt 2011 endgültig. Als nicht effektiv bezeichnete er es damals, man würde jede Menge Geld versenken, während die Stadt gleichzeitig zugrunde geht. Von einer Billion Rubel (damals gut 23 Milliarden Euro) Baukosten war zu diesem Zeitpunkt die Rede.

Nun kommt die asphaltierte Kehrtwende. Bis zu 60 Prozent der neuen Strecke seien bereits fertig, erklärte der Vizebürgermeister für Fragen der Städtebaupolitik und des Bauwesens Andrej Botschkarjow Mitte März. Die Trasse, die östlich des Stadtzentrums entlangläuft, soll den Dritten Verkehrsring und die chronisch verstopfte Ringautobahn MKAD um 20 Prozent entlasten, so die Hoffnung der Planer. Bei Fahrten durch die Megapolis würden die Autofahrer zwischen zehn und 50 Minuten sparen, zu den Flughäfen Scheremetjewo und Domodedowo 20 bis 25 Minuten, heißt es auf der Homepage des Stadtbauamts. Ganze 44 Stadtviertel mit 4,5 bis 5 Millionen Einwohnern werden an die neue Trasse angebunden. Die Zahlen wirken verlockend.

Ein Gewinn für alle, könnte man meinen. Konstantin Trofimenko, Direktor des Zen­trums zur Erforschung von Transportproblemen in Megapolen der Moskauer Higher School of Economics, ist auf jeden Fall überzeugt, dass sich die Verkehrssituation mit der neuen Stadtautobahn verbessern wird. In einem Beitrag für die „Federal Press“ preist er die Trasse als Zeichen der neuen Zeit an. Sowjetische Ausfallstraßen wie der Komsomolskij oder Leninskij Prospekt böten zwar viel Platz für Autos, doch die werden durch viele Kreuzungen behindert, so Trofimenko. Die Stadtautobahn ist hingegen vom restlichen Verkehr getrennt, kommt ohne Ampeln aus und störende LKW dürfen sie nicht benutzen. Auch Alexander Kulakow, Direktor des Zentrums für Transportmodellierung an der Fakultät für städtische und regionale Entwicklung der Higher School of Economics sieht das Projekt positiv. Man müsse das alles im größeren Maßstab sehen, schließlich sei das Straßennetz in dieser Gegend noch unterentwickelt.

Urbanisten üben Kritik

Ilja Tschistjakow kann der neuen Stadtautobahn hingegen wenig abgewinnen. Das Vorhaben entspreche nicht der modernen Praxis der Verkehrsplanung, so der Projektdirektor des Konstruktionsbüros Strelka gegenüber „Afisha Daily“. Urbanist Arkadij Gersch­man nennt die neue Trasse „dumm“, während sein Kollege Alexej Radtschenko von einer „Katas­trophe“ spricht. Eine Transitmagistrale, die fast durch das Moskauer Zentrum verläuft, bringe fast gar nichts, sind beide überzeugt. Dafür sei schließlich der Zentrale Autobahnring mit gut 530 Kilometern Länge gebaut worden. Gerschman glaubt, dass die neue Schnellstraße sogar noch mehr Menschen motivieren wird, sich ins Auto zu setzen. Das konnte man bereits bei den großen Ausfallstraßen und dem Dritten Verkehrsring beobachten, so Gerschman bei „Afisha Daily“. Radtschenko meint, mit der Trasse werde Raum für 200 000 bis 300 000 weitere Autos geschaffen. Nachhaltige Verkehrsmittel werden hingegen in ihrer Entwicklung um fünf bis zehn Jahre zurückgeworfen, so der Urbanist.

Auch die Anwohner werden unter der neuen Schnellstraße leiden, sind die Experten überzeugt. Die verlaufe zwar meist neben Bahngleisen, ist aber so groß, dass sie in den Wohngebieten viel Lärm verursachen wird. Außerdem werden die Wohnviertel zerschnitten. Gerschman erinnert an das Beispiel Wychino, wo die Planer vergaßen, einen Zugang zur Metro zu bauen. Die Moskauer, die nun entlang der Straße wohnen, müssen ihre alltäglichen Wege neu planen. Das wirkt sich nicht nur auf die Lebensqualität, sondern auch auf die Immobilienwerte aus, gibt Tschistjakow zu bedenken. Gerschman hofft zumindest, dass die Schnellstraße nach 20 bis 30 Jahren wieder verschwinden wird. Solange werden die Moskauer mit der „neuen Verkehrsrealität“ leben müssen. Gefragt wurden sie übrigens nicht, ob sie die Straße überhaupt wollen. Nur über den Namen durften sie abstimmen.

Daniel Säwert

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