5:00
In Tallinn, der Hauptstadt von Estland, geht eine kurze Nacht zu Ende. Sie hätte die eine oder andere Stunde länger sein sollen. Doch Russland lässt mich nicht ohne Weiteres los. Weil sich die Ausreise über den Grenzübergang Iwangorod-Narva, einen von drei Übergängen an der russisch-estnischen Grenze, am Vortag hingezogen hat, nahm der 370 Kilometer lange Weg von St. Petersburg nach Tallinn insgesamt achteinhalb Stunden in Anspruch. An den Bussen bis zur und von der Grenze lag das zuallerletzt. Auf beiden Seiten sind die Straßen bestens ausgebaut, man ist flott und bequem unterwegs.
5:30
Beim Frühstück zähle ich auf den Fotos von gestern durch: Wie viele Menschen haben in der Schlange auf der russischen Seite der Grenze wohl vor mir gestanden? Es müssen an die hundert gewesen sein, zumindest nicht viel weniger. Als wir uns hinten angestellt hatten, nahm eine der Frauen aus meinem Bus die Schlange von der Seite in Augenschein. Dann verkündete sie mit Kennermiene: „Drei Stunden. Mindestens. Beim letzten Mal hat es zwei Stunden gedauert, obwohl die Schlange nur halb so lang war.“
5:45
Noch ein Kaffee, dann muss ich los zum Flughafen. Zum Glück hat die Warterei gestern nur Zeit gekostet, nichts weiter. Bei Regen und Kälte stundenlang im Freien anzustehen, hätte der Sache noch eine ganz andere Pointe verliehen. Doch der Montagabend Ende April war warm und trocken. In der Schlange herrschte eher Demut als Unmut. Erst als sich eine Frau unter einem Vorwand vorzudrängeln versuchte, kippte die Stimmung.
Der Grenzübergang ist seit Februar nur noch für Fußgänger geöffnet und das neuerdings auch nicht mehr rund um die Uhr. Dass sich hier der Verkehr staut, war nicht unbedingt zu erwarten gewesen. Estland lässt schon seit September 2022 keine russischen Staatsbürger mit Schengen-Visum mehr ins Land. Dafür braucht es schon eine Aufenthaltsgenehmigung. Oder eben einen ausländischen Pass. Doch das reicht offenbar, um den Betrieb schnell aus dem Takt zu bringen. Vielleicht wird bei der Rekonstruktion des Autoübergangs, die auf zwei bis drei Jahre angelegt ist, ja auch die Grenzstation so ausgebaut, dass sie mehr Kapazitäten hat.
Schließlich ist es eher ungewöhnlich, dass die Ausreise aus einem Land mehr Zeit in Anspruch nimmt als die Einreise ins andere. Dabei sind auf der russischen Seite immerhin vier Schalter besetzt. „Ihr Chip ist unlesbar, richtig?“, meinte die Grenzbeamtin zu mir. War das eine Frage, die ich beantworten sollte? Ich entgegnete, dass sie mir dasselbe schon bei der Einreise vor drei Monaten gesagt hat und dass der Chip bei Passkontrollen anderswo keine Probleme macht. Da huschte sogar ein Lächeln über ihr Gesicht. Ich musste für ein paar Minuten zur Seite treten, während sie einen Anruf tätigte. Dann bekam ich den Pass zurück und die Frau wünschte mir gute Weiterreise.
Auf der estnischen Seite der Grenzbrücke über die Narva ging die Abfertigung vergleichsweise fix vonstatten. Für mich als EU-Bürger ohnehin, da eine automatische Schleuse zur Verfügung steht. Rund vier Stunden nach der Ankunft in Iwangorod saßen auch die letzten von uns im Anschlussbus auf dem Petersplatz von Narva. Kurz vor Mitternacht waren wir in Tallinn, ein letzter Fußmarsch und ich hatte mein Hotel erreicht.
6:00
Estland gilt als Vorreiter in Sachen Digitalisierung. Das im Internet gebuchte Hotel Tallinn Airport Studios ist da keine Ausnahme. Es befindet sich im zweiten Stock eines Wohnblocks aus Sowjetzeiten und verzichtet neben der Rezeption auch auf Schlüssel. Per Mail werden Zahlenkombinationen übermittelt, mit deren Hilfe sich die drei Türen bis zum eigenen Zimmer öffnen lassen. Das Verlassen des Hotels am frühen Morgen ist nun gleichfalls kontaktlos.
6:30
Den Airport trägt das Hotel im Namen, weil es zwar in einem Wohngebiet untergebracht ist, aber keine anderthalb Kilometer Luftlinie vom Flughafen. Den trennen wiederum nur vier Kilometer vom Stadtzentrum. Die Anfahrt ist entsprechend kurz. Ich gehe gleich zu Fuß und bin noch früher da, als ich gedacht hätte.
6:40
Das Einchecken des Gepäcks erfolgt elektronisch. „Kommen Sie, ich helfe Ihnen dabei“, empfängt mich eine Mitarbeiterin am Schalter.
6:45
Die zugegeben nicht ganz unparteiische Webseite Visitestonia.com bezeichnet den Flughafen von Tallinn als „gemütlichsten der Welt“. Da ist etwas dran. Der mit einem Aufkommen von knapp drei Millionen Passagieren im Jahr 2023 kleinste Hauptstadtflughafen der drei baltischen Länder macht in vielerlei Hinsicht eine gute Figur. Schon die Personen- und Handgepäckkontrolle ist so entspannt wie selten. Erst kürzlich wurde neue Technik installiert und so das Screening damit dermaßen verfeinert, dass seit Ende März bestimmte Gepäckstücke wie zum Beispiel Laptops nicht mehr in eine separate Wanne gelegt werden müssen. Außerdem darf das Handgepäck statt bisher 100 Milliliter Flüssigkeit nun bis zu zwei Liter enthalten. Das ist doch mal ein Fortschritt.
6:55
Ich treffe ein älteres Ehepaar aus meinem gestrigen Bus wieder. Wegen unserer späten Ankunft in Tallinn haben sie es vorgezogen, gleich im Flughafen zu übernachten, und schauen entsprechend müde aus. Jetzt wird ihr Flug nach München aufgerufen. Für mich geht es nach Berlin, allerdings über Stockholm. Diese Verbindung mit der skandinavischen Fluglinie SAS, die von hier keine Direktflüge nach Deutschland anbietet, hat ein russisches Buchungsportal ausgespuckt und für das Ticket 12.000 Rubel berechnet, rund 120 Euro. In Zeiten, da die Preise auf der Standardroute über die Türkei gern mal beim Doppelten und Dreifachen dieser Summe beginnen, ist das fast schon ein Schnäppchen.
7:45
Start des kleinen Canadair Regional Jets und ein 1A-Blick über die zum Unesco-Weltkulturerbe zählende Altstadt von Tallinn sowie die Küste der Tallinner Bucht. Hier laufen die Ostsee-Fähren nach Stockholm und Helsinki aus. Finnlands Hauptstadt ist nur 80 Kilometer entfernt ist, die Schiffe brauchen gerade einmal zwei Stunden und 15 Minuten dafür.
7:50
Noch aus großer Höhe sind die estnische und die ukrainische Flagge an einem der Gebäude auf dem Freiheitsplatz von Tallinn zu erkennen. Estland ist historisch einerseits eng mit Russland verbunden. 22,5 Prozent der Bevölkerung sind ethnische Russen, das ist prozentual nach Lettland (24,5 %) die zweitgrößte russische Minderheit weltweit. Andererseits gehört Estland zusammen mit den anderen baltischen Staaten immer wieder zu den schärfsten Kritikern Russlands. Im Baltikum nahm vor 35 Jahren auch die Auflösung der Sowjetunion ihren Anfang.
7:45
Weil sich der Zeitunterschied zwischen Tallinn und Stockholm mit der Flugdauer deckt, zeigt die Uhr bei der Landung dieselbe Zeit an wie beim Abflug. Der Flughafen Arlanda liegt etwa 40 Kilometer außerhalb von Stockholm auf dem Land. Ländlich ist auch das, was sowohl beim Anflug als auch später beim Weiterflug nach Berlin von Schweden zu sehen ist – und unverschämt grün.
10:05
Das zweite Teilstück der Flugreise ist länger als das erste. Doch die Zeit vergeht buchstäblich wie im Flug, vor allem auf den Fensterplätzen. Ganz ohne Aufpreis wird mit der Aussicht auf die Insel Rügen, Neubrandenburg, Potsdam und anderen Städten großes Kino geboten.
12:15
Endlich wird man wieder auf Deutsch angesprochen. So ziemlich das Erste, was ich nach der Landung im BER höre, ist: „Aufmachen!“ Zwei junge Menschen in Uniform stellen sich mir in den Weg, als ich den Flughafen-Markt von Rewe verlassen will. Sie zeigen auf meine Reisetasche. Ich bin in Gedanken und zucke kurz zusammen. Aber dann öffne ich brav den Reißverschluss. Gleich zuoberst kommen einige Lebensmittel aus dem Markt zum Vorschein. Die Uniformierten schauen sich vielsagend an. Triumphierend, würde ich sagen. „Jetzt räumen sie mal die Tasche aus“, meint der eine. Ach so, die halten mich also für einen Ladendieb, den sie gerade auf frischer Tat ertappt haben. Da muss ich sie leider enttäuschen. Sie scheinen mich dabei beobachtet zu haben, wie ich die Sachen in der Tasche verstaut hatte. Die Bezahlung davor war ihnen aber irgendwie entgangen. Der Fall klärt sich schnell auf, man entschuldigt sich und ich bin gleich wieder putzmunter.
18:21
Die Zugfahrt von Berlin nach Leipzig und nun von Leipzig nach Chemnitz verlangt noch einmal Stehvermögen. Es gab Zeiten, da bin ich von Moskau direkt nach Dresden oder Leipzig geflogen. Das hat knapp drei Stunden gedauert und nicht anderthalb Tage – von Haustür zu Haustür gerechnet – wie jetzt der Marathon über St. Petersburg, Iwangorod-Narva, Tallinn, Stockholm und Berlin. Aber so ist er nun mal, der nicht alltägliche Reisealltag von heute. Immerhin kann man dabei allerhand erleben.
Tino Künzel