Im Kinderzimmer der Erinnerungen

Die Ausstellung „Es ist schwer für mich, ohne dich zu leben“ im Museum für die Geschichte des Gulag ist den Familiengeschichten von „Volksfeinden“ und den Kindern, die ihnen entrissen wurden, gewidmet. Das ist ein erster Versuch des Museums, mit Grundschülern über das schwierige Thema der Repressalien und der Trennung von den Angehörigen zu sprechen.

Die Kindheitserinnerungen im Koffer (Foto: Olga Silantjewa)

Die Würfel von Swetlana

Auf den Würfeln finden wir die Geschichte Swetlana Wachmenzewas. Sie wurde 1938 im Dorf Gorbunowo im Gebiet Tomsk geboren. Sie war zwei, als sie ihren Vater zum letzten Mal sah: Er ging an die Front und fiel bei Stalingrad. Dann verlor Swetlana ihre Mutter. Sie kam aus einer der 1930 entkulakisierten Bauernfamilien, die alle in das Gebiet Narym verbannt worden waren. Sowohl zu Zarenzeiten als auch in der Stalinzeit wurden die Menschen zu Tausenden dorthin geschickt. Die Mutter arbeitete zuerst als Putzfrau in einer Schule und später als Holzfällerin.

Die Würfel, die über Swetlanas Kindheit erzählen (Foto: Olga Silantjew)

„Ich kann mich gut an den Krieg erinnern“, Swetlanas Erinnerungen sind auf die Ränder der Würfel geschrieben. „In Sibirien herrschen, wie ihr wohl wisst, starke Fröste, manchmal waren es 55 Grad. Die Spatzen starben vor Kälte. Ich wohnte mit meiner Mutter zusammen, sie wurde sehr krank. Aber im Krieg gab es keine guten Ärzte in unserer abgelegenen Siedlung. Ich war 8 Jahre alt, als meine Mutter starb. Meine Großeltern nahmen mich zu sich.“

In Majas Kinderzelt

In einem Kinderzelt befindet sich die Geschichte von Maja Kwascha, 1935 geboren. 1937 wurde ihr Vater verhaftet und für die Teilnahme an antisowjetischen Handlungen verurteilt. Er wurde gleich erschossen. Die Mutter war als „Angehörige eines Vaterlandsverräters“ verurteilt worden und verbüßte ihre Strafe in einem Lager in Karaganda. Die Schwester des Vaters nahm Maja und den älteren Bruder Felix bei sich auf.

Das Kinderzelt, das Majas Geschichte symbolisiert (Foto: Museum für die Geschichte des Gulag)

„Tante Fanja war zehn Jahre lang meine Mutter (…) Sie war sehr zärtlich, bemutterte uns und sorgte für uns, obwohl sie viel zu tun hatte. Mama war streng und etwas verschlossen. Meine Tante hat mich oft gestreichelt und war zärtlich zu mir, meine Mutter jedoch war zurückhaltend“, erzählte Maja Kwascha der Kuratorin der Ausstellung, Vera Jarilina. Deshalb hat sie zusammen mit der Designerin Maria Kriwzowa entschieden, Majas Geschichte in ein Zelt zu packen. „Wir wollten auf diese Weise die Fürsorge, mit der Tante Fanja die Kinder umhüllt hatte, zeigen“, erklärt Vera Jarilina. Man kann in das Zelt hineingehen, auf den Kissen liegen und in dem Bilderbuch „In einem alten Haus in Moskau“ blättern. 1945 ließ man Majas Mutter frei.

Durch Sofias Schrank

In die Geschichte von Sofia Kusboshewa, die im kommenden Jahr 90 wird, treten wir durch einen Schrank ein. In einem solchen Schrank hat die kleine Sofia bei besonders schrecklichen Bombenangriffen in Moskau auf die Heimkehr der Mutter vom Dienst gewartet. 1947 fuhren Sofia und ihre Mutter nach Uchta. Dort befand sich Sofias Vater fünf Jahre lang im Lager. 1939 verhaftete man ihn und als Mitglied einer trotzkistischen Organisation verbannte man ihn in den Norden. 1947 nahm die Familie auch Sofias Großmutter mit zu sich, eine, eine alte Revolutionärin, die noch mit Lenin zusammengearbeitet hatte. 1936 wurde die Großmutter verhaftet, konterrevolutionärer Tätigkeit bezichtigt und in den Gulag im Norden verbracht. Ihr Mann war ein Jahr zuvor mit der gleichen Anklage wie sie verhaftet und 1937 erschossen worden.

Der Sofias Schrank, der voller Erinneringen ist (Foto: Museum für die Geschichte des Gulag)

„[Uchta] war eine kleine Stadt. Wir wohnten zu dritt in einem Zimmer von zwölf Quadratmetern und holten die Großmutter noch mit dahin. Wir schafften uns eine Ziege an. Mama war eine weiche und intelligente Frau, und dann war da plötzlich die Ziege Roska. Wir lebten in einer zweigeschossigen Baracke, wo jeder ein kleines Stück Land hatte. Meine Mutter pflanzte Blumen. Dort gab es auch einen Schuppen und eben diese Ziege, die gemolken werden musste. Sie erkannte nur meinen Vater an und ließ sich auch nur von ihm melken. Dann mussten wir sie auch impfen lassen. Ich musste sie an einem Strick quer durch die ganze Stadt zum Tierarzt führen. Da war ich aber schon in der 9. Klasse und ging mit einem Jungen. Aber die Ziege nicht zum Arzt zu führen, ging auch nicht, die Eltern hatten es mir ja aufgetragen.“

Am Tisch im Kinderzimmer

In der Ausstellung gibt es acht solcher Geschichten. Ihnen liegen Erinnerungen von Personen zugrunde, deren Kindheit in die 1930er bis in die 1950er Jahre fiel. Das sind alles die Schützlinge des sozialen Freiwilligenzentrums des Museums für die Geschichte des Gulag. Das Zentrum unterstützt die Opfer der politischen Verfolgungen der Stalinzeit, von denen die meisten einsam und hilfsbedürftig sind.

Im März 2022 startete das soziale Freiwilligenzentrum das Projekt „Ein Lächeln der Freude“, in dessen Rahmen Freiwillige – professionelle Fotografen – mit 75 Schützlingen des Zentrums ein Fotoshooting gemacht haben. Auf den Fotos sind lächelnde Menschen zu sehen. Ihre Porträtfotos erhielten sie als Geschenk. Das hat auch einen therapeutischen Effekt: Betagte Menschen sehen sich glücklich und sogleich bessert sich ihre Laune. Die Erinnerungen, die acht von ihnen mit den Organisatoren und Besuchern der Ausstellung geteilt haben, bringen den gleichen Effekt, denn die Menschen teilen so ihren Schmerz.

Die Ausstellung „Es ist schwer für mich, ohne dich zu leben“ im Museum für die Geschichte des Gulag ist den Familiengeschichten von „Volksfeinden“ und den Kindern, die ihnen entrissen wurden, gewidmet. Das ist ein erster Versuch des Museums, mit Grundschülern über das schwierige Thema der Repressalien und der Trennung von den Angehörigen zu sprechen.
Die Fotos des Projektes „Ein Lächeln der Freude“ (Foto: Olga Silantjew)

„Wir wollten zeigen, wie man mit Kindern über die schwierige Vergangenheit sprechen kann“, erläutert Vera Jarilina die Idee der Ausstellung. „Wie kann man die Beziehung zu den Angehörigen aufrechterhalten, wenn man weit vonein­ander entfernt ist. Heute ist das wieder aktuell, denn viele Kinder haben zur Armee eingezogene Väter.“

In der Ausstellung gibt es keine langen Texte, nur Auszüge aus den Erinnerungen. Die gesamte Mansarde des Museums hat sich in ein Kinderzimmer verwandelt, mit Teddybären, Puppen und geliebten Büchern. An einem großen Tisch kann man diskutieren, wie die Familiengeschichte bewahrt werden kann, wie man die Verbindung zu Freunden und Verwandten aufrechterhält, die sich auf der anderen Seite der Staats- oder Werte-Grenzen befinden.

Die Ausstellung „Es ist schwer für mich, ohne dich zu leben“ bietet ein Begleitprogramm mit Vorlesungen und Workshops für Kinder und Erwachsene an. Sie ist bis zum 11. August geöffnet.

Olga Silantjewa

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