Kinder stellen ständig Fragen. Warum ist der Himmel blau und die Banane krumm? Im Laufe der Zeit werden sie voller Neugier auch nach der Vergangenheit fragen: Wo sind die Großeltern geboren, was haben sie gemacht, als sie jung waren und wie haben sich eigentlich die Eltern kennengelernt? Fragen nach der Familiengeschichte eröffnen eine Möglichkeit, die Weltgeschichte kennenzulernen. Mit all ihren Höhen und Tiefen.
Solch einen Versuch unternahmen die Illustratorin Anna Desnizkaja und die Kinderbuchautorin Alexandra Letwina. Ihr Buch „In einem alten Haus in Moskau“, dieses Jahr in deutscher Übersetzung im Gerstenberg Verlag erschienen, erzählt die Geschichte einer Moskauer Wohnung vor dem Hintergrund eines Jahrhunderts. Es handelt sich nicht nur um eine Familiensaga, wie sie schon Gabriel García Márquez in „Hundert Jahre Einsamkeit“ realisiert hat, sondern auch um eine Enzyklopädie des russischen Lebens in liebevoller Kleinstarbeit. Das visualisierte Interieur und die dazugehörige Erzählung bedienen sich einer kindlichen Perspektive. So hat der Leser keine andere Wahl, als in den Bann dieser Zeitreise gezogen zu werden.
Krieg und Repression durch Kinderaugen
Den Anfang macht die sechsjährige Irina Muromzewa, die uns an die Hand nimmt und in das Jahr 1902 entführt. Gerade ist die Arztfamilie in eine neue Sechszimmerwohnung eingezogen. Dort riecht es frisch lackiert, nach Holz und Wachs. Der Vater Ilja Muromzew räumt seine Bücher ein, die Mutter Jelena Muromzewa steht auf dem roten Samtsofa und hängt Familienfotos an die Wand.
Auf der nächsten Seite befinden wir uns schon im Krieg. Weihnachten 1914. Die Muromzews sitzen zu Tisch, als jemand unerwartet an der Tür klingelt: Es ist der Vater, der von der Front zurückgekehrt ist. Auf ihn hat der siebenjährige Sohn Nikolaj sehnsüchtig gewartet. Stolz erzählt er, dass er die deutsche Puppe seiner Schwester verhaftet hat, weil sich überall Spione verstecken. Auch die Wiener Bäckerei des Herrn Seidler gehöre dazu. Obwohl dieser das Rote Kreuz unterstützte, musste der Bäcker nach dem Progrom schließen, erfahren wir auf der nächsten Doppelseite, die den Ersten Weltkrieg in wenigen Sätzen anschaulich erklärt.
Chaotische Zeiten kommen auf die Muromzews zu. Sie müssen zusammenrücken, denn nach der Oktoberrevolution teilen sie fortan ihre Wohnung mit anderen Familien. Einsam und langweilig wird es da nie: In der Küche wird gewaschen, gekocht, gelernt und getanzt. Zwischendurch gestritten und wieder versöhnt.
Wir schreiben das Jahr 1937. Die Zeit der stalinistischen Repressionen. Toma Muromzewa, Nikolajs Tochter, berichtet, wie sie nachts hörte, dass jemand abgeholt wurde. Am nächsten Tag wundert sie sich über die verstörten Gesichter der Erwachsenen. Auch den Zweiten Weltkrieg und seine Auswirkungen sehen wir mit den Augen der Kinder: Nikolaj Muromzew fiel bei Stalingrad und Großvater Ilja Muromzew wurde 1942 von einem Bombensplitter getroffen.
Mit Wimmelbildern zum Dialog
Es folgt Epoche für Epoche, die Familiengeschichte mit historischen Einschnitten fest verwoben: Stalins Tod, Gagarins Raumflug, Tauwetter, Perestrojka und die wilden 90er Jahre. 2002 versammeln sich die Muramzews, die quer über den Globus verstreut leben, in ihrer alten Wohnung. Fedja Stein, Ilja Muromzews Enkel, ist in den 70er Jahren nach Amerika emigriert. Und Irina Muramzewa floh nach der Oktoberrevolution mit einem Weißgardisten nach Paris.
Vergangenheit und Erinnerung können wunde Punkte sein. Über sie zu schreiben, gar zu zeichnen, ist nicht einfach. Letwina und Desnizkaja ist daher ein Kunststück gelungen, in dem sie Gegenstände sprechen lassen, von denen es geradezu wimmelt, die einen Dialog zwischen den Generationen ermöglichen. Vieles kommt bekannt vor: die gleichen Spielsachen, Kleider und Möbel. Es ist etwas Gemeinsames, das neutral scheint. Ideologische Schablonen, aus denen das reale Leben ausbricht, fehlen hier. Das liegt nicht zuletzt daran, dass die Autorinnen ihr Material aus Memoiren, Archiven und der eigenen Familiengeschichte geschöpft haben.
Auf der letzten Seite findet sich übrigens auch das rote Samtsofa wieder. Es hat die Zeit überdauert.
Katharina Lindt