„Helfen Sie uns“: Sibirische Dörfler und ihr Plan mit Merkel

Das ist vielleicht auch Angela Merkel in ihren 16 Bundeskanzlerinnenjahren zum ersten Mal passiert. Aus einem 642-Seelen-Dorf beim Omsk in Sibirien, rund 4000 Kilometer östlich von Berlin, erreichte sie ein Brief, in dem sie um Hilfe bei der Asphaltierung der Hauptstraße des kleinen Orts gebeten wird. Aus Berlin bekamen die Dörfler sogar Antwort. Und Besuch von der MDZ. Eine Geschichte aus den Weiten Russlands.

Ober-Karbuscher auf ihrer Sorgenstraße, die sie endlich asphaltiert haben möchten (Foto: Tino Künzel)

Werchnij Karbusch, zu Deutsch Ober-Karbusch, hat in den 111 Jahren seines Bestehens schon so einige Höhen und Tiefen erlebt. Doch die Kunde davon drang meist nicht über die Dorfgrenzen hinaus. Zuletzt war der kleine Ort bei der sibirischen Großstadt Omsk nun plötzlich in aller Munde. Mit einem Hilferuf an Bundeskanzlerin Angela Merkel hat es Ober-Karbusch diesen Sommer im In- und sogar im Ausland in die Nachrichten geschafft.

Eine kurze Videobotschaft, die über die sozialen Netzwerke verbreitet wurde, zeigt ein halbes Dutzend Dorfbewohner mit Irina Drosdowa, einer ehemaligen Lehrerin, an der Spitze. Es geht ihnen um die wichtigste und älteste Straße im Ort. Die 1,2 Kilometer lange Karbyschew-Straße sei heute im selben Zustand wie zur Zeit der Dorfgründung durch Russlanddeutsche, heißt es in einem Brief, den Drosdowa parallel dazu im Namen der Dörfler verfasste. Man kämpfe schon seit vielen Jahren darum, dass sie endlich asphaltiert werde. Bei den eigenen Behörden stoße man auf taube Ohren. „Helfen Sie uns“, endet das Schreiben.

Der Brief wurde per E-Mail und per Post an das Bundeskanzleramt geschickt. Weil die Postsendung 5000 Rubel kostete, hat man im Dorfladen eine Spendenbox aufgestellt und Geld gesammelt.

Der Ärger um die Karbyschew-Straße hat Wellen geschlagen. (Foto: Tino Künzel)

Aber wie kommt man eigentlich auf die Idee, dass Angela Merkel die richtige Ansprechpartnerin für einen Straßenbelag in Sibi­rien sein könnte? Wer die Meldung hörte, schwankte zwischen Schmunzeln, Kopfschütteln und inner­lichem Beifall für das Trolling der Verantwortlichen in der Re­gion. Die Ortsansässigen scheinen dagegen gar keine Hintergedanken gehabt zu haben – sie sind die Situation einfach nur leid.

Schmutzige Angelegenheit

An einem Mittwochvormittag Ende Juli hat Irina Drosdowa einige von ihnen ungefähr in der Mitte der Karbyschew-Straße versammelt. Dass sich eine Moskauer Zeitung für sie interessiert, freut die Menschen. Nur ist der Reporter von der MDZ leider zur falschen Zeit gekommen. Bei warmem und trockenem Sommerwetter macht die Straße einen zwar staubigen, aber harmlosen Eindruck und wirkt zumindest nicht wie der passende Anlass, um ausländische Spitzenpolitiker einzuschalten.

Doch der Schein trüge, versichern die Einheimischen. Im Frühjahr oder Herbst, ja eigentlich nach jedem Wolkenbruch, werde die Überquerung der unbefestigten Straße zur Schlammschlacht. „Auf dem Weg zur Bushaltestelle sinken wir im Matsch ein und müssen Wechselschuhe mitnehmen, wenn wir in die Stadt wollen“, sagt eine ältere Frau. „Wenn wir uns nicht selber helfen, hilft uns niemand“, meint eine andere. Die Stimmung ist dabei durchaus friedlich. Man hätte gern eine Poststelle im Ort und einen Jugendklub. Aber ansonsten kommt man schon zurecht. Auf die Barrikaden gehen will hier niemand.

Bei trockener Witterung gleicht die Straße zwar stellenweise einem Acker, aber richtig dick kommt es nach Regen. (Foto: Tino Künzel)
Off-Road-Fans hätten hier vielleicht ihren Spaß. Doch die Anwohner finden es eine Zumutung, große Teile des Jahres durch eine solche Pampe waten zu müssen. (Foto: Privat)
Hier geht die Karbyschew- in die Schulstraße über, die, wie der Name schon sagt, zur Schule führt, zum Dorfladen und zur Bushaltestelle. (Foto: Privat)

Dass Dorfstraßen je nach Jahreszeit nur mit Gummistiefeln und manchmal überhaupt nicht passierbar sind, ist in Russland eher die Regel als die Ausnahme. Im April machte eine Nachricht aus der Region Rostow am Don die Runde, wo der Krankenwagen nach einem Notruf kurz vor dem Ziel im Morast steckenblieb und erst von einem Traktor wieder fahrtüchtig gemacht werden musste. Die Angehörigen eines alten Mannes hatten den Rettungsdienst alarmiert. Aber als die Notärztin zu Fuß bei der besagten Adresse auf dem Land eintraf, war es zu spät: Sie konnte nur noch seinen Tod feststellen.

Für Irina Drosdowa ist es schon eine Schande, dass eine Straße, die nach dem russischen und sowjetischen Offizier Dmitrij Karbyschew benannt ist, so ein Bild abgibt. Karbyschew geriet im Zweiten Weltkrieg in deutsche Kriegsgefangenschaft. In Konzentrationslagern soll ihm mehrfach vergeblich angeboten worden sein, die Seiten zu wechseln. Kurz vor Kriegsende wurde er im KZ Mauthausen mit anderen Gefangenen zu Tode gequält.

Ein deutsches Dorf

Die Karbyschew-Straße hat aber noch aus einem anderen Grund einen besonderen Klang für die Dörfler. Hier nahm der Ort einst seinen Anfang. Es war der Russlanddeutsche Johann Schell, der knapp 400 Hektar Land kaufte und seine eigene Wirtschaft aufbaute. Die Schells stammten aus Mariupol am Asowschen Meer, wo jedoch das Land knapp wurde. Wie viele andere Bewohner des europäischen Teils Russlands machte er sich Ende des 19. Jahrhunderts mit Frau und Kindern auf, um im fernen Sibirien sein Glück zu suchen. Das entsprechende Teilstück der späteren Transsibirischen Eisenbahn war gerade rechtzeitig fertig geworden, um mit dem Zug bis nach Omsk fahren zu können, die heutige Millionenstadt am Irtysch. Nach dem Landkauf scharten die Schells andere Deutsche um sich, die Namen wie Wedau, Krause, Frischbutter oder Schulz trugen.

Wladimir Schell, dessen Vorfahren die ersten Siedler in Ober-Karbusch waren, in seiner Heimatstadt Omsk vor einem Denkmal für die Helden des Hinterlands im Großen Vaterländischen Krieg (Foto: Tino Künzel)

Wladimir Schell hat die Archive durchforstet, um die Geschichte seiner Familie bis ins Detail zu rekonstruieren. Der 72-jährige Industriedesigner aus Omsk ist der Urenkel des Ortsgründers Johann Schell. Der wurde mit seiner Frau Rosalia 1931 als „Kulak“ aus dem Dorf vertrieben und war danach ein gebrochener Mann, er starb noch im selben Jahr. Wladimir Schells Großvater Eduard überlebte die politische Verfolgung der 1930er Jahre ebenfalls nicht, sein Vater Konstantin musste während des Zweiten Weltkrieges in den Kohlegruben von Workuta schuften und war keine 30, als ihn die Tuberkulose dahinraffte. Heute findet sich der Name Schell in Ober-Karbusch nur noch auf dem Friedhof.

Doch das Dorf hatte lange Zeit eine mehrheitlich deutsche Bevölkerung, bis in den 1990er Jahren der Exodus der Deutschen gen Deutschland einsetzte. Wer heute noch da ist, hat dafür meist sehr persönliche Gründe. So wie Jurij Falkenberg, schon über 20 Jahre eine Art ehrenamtlicher Dorfvorsteher. Er wollte seine Oma, die ihn aufgezogen hat, nicht allein zurücklassen. Oder Alexander Weißbrot. Nach fünf Jahren als Spätaussiedler in Deutschland kehrte er, gesundheitlich schwer angeschlagen, mit seiner Familie in die alte Heimat zurück. Erst hier kam er wieder auf die Beine.

Mit diesem Schaukasten erzählt das Dorf über sich selbst. (Foto: Tino Künzel)

Heute zählt Ober-Karbusch, von wo aus es nur 20 Kilometer bis nach Omsk sind, 642 Einwohner und 15 Nationalitäten. Die Deutschen sind immerhin noch die drittgrößte Ethnie. Und auch „Ehemalige“, die nun schon ihr halbes Leben in Deutschland verbracht haben, mischen in der einen oder anderen Form immer noch mit. So legten die Gebrüder Schulz bei einem Heimatbesuch das Geld für ein Bushäuschen auf den Tisch. Ohne Eigeninitiative geht in Ober-Karbusch nichts. Als voriges Jahr das 110. Ortsjubiläum gefeiert wurde, da haben die Dörfler alles selbst organisiert und finanziert. Ihr Schicksal in die eigenen Hände zu nehmen, das sind sie gewohnt.

45 Tage Hungerstreik

Beim Borschtsch in ihrer Küche erzählt Irina Drosdowa, dass sie mit Angela Merkel sogar etwas gemeinsam hat: Beide traten ihre heutigen Ämter 2005 an. Das von Drosdowa ist mit etwas weniger Vollmachten ausgestattet, aber die weiß die Rentnerin zu nutzen. Als Abgeordnete im Gemeinderat des Nachbarorts Troizkoje, der auch für Ober-Karbusch zuständig ist, bildet sie zusammen mit einigen Mitstreitern eine aktive und durchaus schlagkräftige Opposition. Probleme gibt es genug. Eine nahe gelegene Mülldeponie zählt dazu, die immer wieder die Luft verpestet, wenn sich dort Abfälle entzünden. Jetzt ist in der Gegend auch noch ein Krematorium geplant, was schon für mehrere Protestaktionen gesorgt hat. Generell muss die soziale, wirtschaftliche und ökologische Lage in Omsk und Umgebung wohl als angespannt bezeichnet werden. Im vorigen Jahr hat Omsk 1,27 Prozent seiner Bevölkerung verloren (fast 15.000 Menschen) – der mit Abstand höchste Wert unter allen 15 Millionenstädten Russlands.

Drosdowa ist in der Gegend bekannt wie ein bunter Hund, weil sie auch vor ungewöhnlichen Methoden nicht zurückschreckt, um den gewöhnlichen Schwierigkeiten des russischen Landlebens zu begegnen. Als in ihrem Dorf das Heizhaus dichtgemacht wurde, blieben die Bewohner dreieinhalb Jahre ohne Fernwärmeversorgung. Drosdowa trat in den Hungerstreik. 45 Tage – nur Wasser und Tee. Letztlich bekam Ober-Karbusch den geforderten Gasanschluss, Drosdowa – so hatte sie es selbst gewollt – als Letzte Anfang 2008.

Das Geld für das 2018 aufgestellte Bushäuschen kam, so steht es auf dem Schild, von den drei Schulz-Brüdern, ehemaligen Einwohnern, die heute in Deutschland leben. (Foto: Tino Künzel)

Mit einem weiteren Hungerstreik setzte sie sich für die Asphaltierung der Gartenstraße ein, über die der Busverkehr aus und nach Omsk rollt. Die 63-Jährige wohnt seit 1990 in Ober-Karbusch und hat die Zeiten noch erlebt, als die nächstgelegene Bushaltestelle sechs Kilometer entfernt war. Das sollte sich nicht wiederholen, nur weil die Verkehrsbetriebe es ablehnen, wegen der schlechten Straßen das Dorf zu bedienen. Als die Gartenstraße im vorigen Herbst tatsächlich asphaltiert wurde, war das ein Triumph. Nur die Qualität hätte besser sein können. Schon heute, nicht einmal ein Jahr später, bröckelt der Belag hier und da.

Aber Drosdowas größter Coup war wohl der Brief an Merkel. Als Kremlsprecher Dmitrij Peskow darauf angesprochen wurde, nannte er die Wut der Dörfler „berechtigt“. Allein das war Gold wert. Welcher Behördenvertreter wollte die Angelegenheit jetzt noch unter den Teppich kehren?

„Lieber Wladimir“

Ob Angela Merkel die Sorgen der Ober-Karbuscher zu Ohren gekommen sind, ist, nun ja, fraglich. Und selbst wenn, was hätte sie nach dem Willen der Widerspenstigen aus Sibirien eigentlich unternehmen sollen? Drosdowa schmunzelt: „Dass deutsche Bautechnik hier anrückt, habe ich jetzt nicht erwartet. Aber Merkel und Putin sprechen ja häufig miteinander. Da habe ich mir gedacht, dass eure Kanzlerin sagen könnte: ,Lieber Wladimir, kümmere dich doch mal um dieses Problem in dem sibirischen Dorf. Es kann doch nicht sein, dass deine Leute mir deshalb schreiben.‘ So habe ich mir das vorgestellt.“

Es ist nicht so, dass in Ober-Karbusch keine Bautechnik im Einsatz ist. Bisher sieht sie allerdings so aus. (Foto: Tino Künzel)

Groß waren die Hoffnungen auf eine wie auch immer geartete Reaktion nicht. Umso mehr wusste man es in Ober-Karbusch zu schätzen, dass das Bundeskanzleramt mit einer E-Mail antwortete, auch wenn es eine abschlägige Antwort war. Es sei „nicht die Aufgabe der Bundeskanzlerin der Bundesrepublik Deutschland, auf die örtlich zuständigen Behörden anderer Länder einzuwirken“, man bitte um Verständnis, steht in dem langen Schreiben. Die Aufmerksamkeit, die ihnen zuteil wurde, und der verbindliche Ton hat bei den Dörflern trotzdem Eindruck hinterlassen. Sie fühlten sich ernstgenommen. Und das haben sie dann auch in den Medien so kommuniziert, als Fingerzeig für die eigenen Behörden: Seht her, wie man mit Bürgern umgeht!

Asphaltierung im nächsten Jahr

Außerdem verwies das Bundeskanzleramt die Adressaten an den Internationalen Verband der deutschen Kultur (IVDK), die Interessenvertretung der deutschen Minderheit in Russland. „Vielleicht kann man Ihnen dort behilflich sein.“ Ein Treffen im Deutsch-Russischen Haus in Omsk hat bereits stattgefunden. Mit Straßenbau beschäftige man sich nicht, sagt Jelisaweta Graf, stellvertretende IVDK-Vorsitzende und Direktorin des Deutsch-Russischen Hauses, „wir sind eine Kulturorganisation“. Das Angebot reicht von Sprachklubs über Jugendfreizeiten bis zur Altenhilfe. Die Gäste fuhren zufrieden wieder nach Hause und wollen prüfen, was für sie relevant sein könnte.      

Das Bauamt der Omsker Region hat derweil die Asphaltierung der Karbyschew-Straße für 2022 in Aussicht gestellt. Dafür müsse nur ein bereits 2019 erstelltes Projekt mit aktualisiertem Kostenvoranschlag eingereicht werden. In Ober-Karbusch finden sie, mit ihrem Brief an die Bundeskanzlerin ihr Ziel erreicht zu haben. Wenn das alles mal vorbei sei und man sich für den Dreck auf der Straße nicht mehr schämen müsse, dann könne auch Merkel kommen. Man würde sich über ihren Besuch in Ober-Karbusch freuen, sagt die Ärztin und Unternehmerin Natela Poleschajewa, die mit Irina Drosdowa im Gemeinderat sitzt. „Sie ist herzlich eingeladen.“

Tino Künzel

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