
Alle drei bisher veröffentlichten Romane von Gusel Jachina wurden ins Deutsche übersetzt. Im Jahr 2020 wurde sie für ihren zweiten Roman „Wolgakinder“ mit dem Georg-Dehio-Buchpreis ausgezeichnet. Dieser Preis würdigt Autoren, die sich in ihren Werken mit den Traditionen und Wechselbeziehungen der deutschen Kultur und der Geschichte im osteuropäischen Raum auseinandersetzen.
Ihr dritter Roman wurde 2022 im Aufbau-Verlag veröffentlicht. Auf Deutsch erschien das Buch „Zug nach Samarkand“ mit dem Titel „Wo vielleicht das Leben wartet“. Auch dieser Roman Jachinas befasst sich mit der Geschichte des Wolgagebiets, und zwar mit der Hungersnot in der Region in den 1920er Jahren. Dejew, ein ehemaliger Soldat auf der Seite der Roten, soll fünfhundert elternlose Kinder mit einem Zug nach Samarkand schaffen, um sie vor dem sicheren Hungertod zu retten. Schmerzhafte Momente der Geschichte der deutschen Minderheit in Russland werden in allen Besprechungen der Bücher Jachinas angesprochen.

Lesungen als Mittel gegen Spaltung
Bei Lesungen im hessischen Gelnhausen erzählt die Autorin, dass sie derzeit in zwei Städten lebt – in Moskau und Almaty. Sie betonte, dass angesichts der gegenwärtigen Spaltung und Isolation Russlands das Pendeln zwischen verschiedenen Orten dazu beitragen könnte, dass die deutsch-russische Kulturszene nicht auseinanderfällt. Daher sei es für sie von Bedeutung, nach Europa zu kommen und mit Menschen zu sprechen.
Das Publikum nimmt Jachinas Romane nicht immer eindeutig, aber stets mit Interesse auf. Darauf wies auch Edwin Warkentin hin, der das Kulturreferat für Russlanddeutsche am Museum für russlanddeutsche Kulturgeschichte in Detmold leitet. Er führte oft Treffen von Gusel Jachina mit deutschen Lesern durch. „Die Kritik an dem Roman kam oft von Russlanddeutschen aus kreativen Berufen. Sie waren unglücklich darüber, dass der Roman „Wolgakinder“, der so populär wurde, von einer Person geschrieben worden ist, die selbst keine Russlanddeutsche ist“, sagt Warkentin. Aber als Russlanddeutscher war ihm die Herkunft des Autors nicht wichtig. Wichtiger sei, dass das russlanddeutsche Thema publik wird und ein neues Publikum anspricht.
Auch Gusel Jachina nimmt die Kritik gelassen hin. Sie sagt, sie sei sich bewusst, dass das Thema Deportation der Wolgadeutschen sehr sensibel sei, dass sie keine gebürtige Russlanddeutsche sei, aber sie biete ihre eigene Sicht von außen an. Sie erinnert sich an berührende Geschichten, als nach der Präsentation des Romans Nachkommen von Anna Janeсke, deren Memoiren Gusel bei der Vorbereitung des Romans „Wolgakinder“ verwendet hat, auf sie zukamen.
Ein Versuch, Gegenwart zu begreifen
Die Gespräche und Diskussionen um den Roman „Wolgakinder“ haben auch dazu beigetragen, dass sich die jüngere Generation der Russlanddeutschen zunehmend für die Geschichte ihrer Vorfahren interessiert. Edwin Warkentin spricht von der sogenannten „mitgebrachten Generation“ – von denjenigen, die in jungen Jahren als Einwanderer nach Deutschland kamen. Viele versuchten, sich in die deutsche Gesellschaft einzufügen und lehnten alles ab, was mit ihren Eltern zu tun hatte. Später wurden sie aber mit einer Reflexion über sich selbst konfrontiert, und sie versuchten, das nicht nur für sich selbst, sondern auch für die Gesellschaft aufzuarbeiten. „Und solche Menschen benötigten Vorbilder wie den Roman von Gusel Jachina“, so Warkentin.
Die Verbindung zwischen den drei Romanen von Gusel Jachina besteht nicht nur darin, dass die Handlung in der Wolga-Region stattfindet, sondern auch darin, dass sie den zeitliche Rahmen der 1920er und 1930er Jahre des 20. Jahrhunderts umfassen. Nach dem 24. Februar 2022 hat sich die Schriftstellerin viele Fragen gestellt, ob man jetzt überhaupt noch etwas Fiktionales schreiben darf, ob man überhaupt noch Fiktion lesen sollte. Nach einigen Monaten hat sie für sich selbst die Antwort gefunden. Sie arbeitet nun an ihrem vierten Roman, der sich mit dem Totalitarismus und der Stalinzeit beschäftigt. „Für mich ist das Schreiben von Romanen über die sowjetische Zeit kein Eskapismus, keine Flucht, sondern eher ein Mittel, um die Gegenwart zu begreifen, sie besser zu verstehen. So seltsam es klingen mag, ich habe in meinen Romanen Dinge beschrieben, die ich nur aus Büchern oder aus der Forschung kannte, und erst jetzt sehe ich diese Ereignisse in unserem Leben“, sagt Jachina.
Das Schweigen als Zeichen der Zeit
Im Roman „Wolgakinder“ hat sie die Geschichte des schweigenden Helden erzählt. Die Hauptfigur Jakob Bach schweigt beinahe während der gesamten Handlung. Und dieses Schweigen hat natürlich eine tiefere Bedeutung. Er hat Angst. Mit diesem Schweigen versucht er, sich selbst und seine Kinder vor der Zeit zu schützen. „Und jetzt beobachte ich in Russland dieses Schweigen“, sagt die Schriftstellerin.
Obwohl sie Parallelen zieht, folgt Gusel Jachina nicht der Versuchung vieler Autoren, ein Werk so zu aktualisieren, dass es der Realität so nahe wie möglich kommt. Sie ist der Meinung, dass ein Autor versuchen kann, ein Werk zu schaffen, das frei vom Einfluss der Zeit ist. „Der Roman „Wo vielleicht das Leben wartet“ ist ein Werk über die Menschlichkeit, und das ist ein zeitloses Thema“, sagt Jachina.
In diesem Roman beschreibt sie, wie ungewöhnlich das Leben sein kann. Diese Unnormalität mag für uns extrem erscheinen, aber die Menschen, die damals gelebt haben, hielten sie für völlig normal. „Jetzt beobachte ich das ebenfalls. Wie schnell und dramatisch sich die Norm ändern kann“, sagt die Autorin. Das Schreiben des Romans und die Aufbereitung des Themas waren für sie sehr schwierig, aber sie wollte dem Leser diese Last ein Stück weit abnehmen. Sie wollte, dass das Buch bis zum Ende gelesen wird, war sich aber bewusst, dass dies für manche Leser unmöglich ist, da „jeder sein eigenes Maß für das Schreckliche hat“.
Maria Bolschakowa