Russland im Jahr 1916: Noch stehen die großen Umbrüche der Geschichte erst bevor. Im deutschen Dorf Gnadental lebt man so vor sich hin. Die Jahreszeiten bestimmen das Leben der Bewohner. Der Deutschlehrer Jakob Bach steht jeden Morgen um 6 Uhr auf, um die Schulglocke zu läuten.
Mit Anfang 30 ist er immer noch unverheiratet und gilt im Dorf schlichtweg als Sonderling. Sein Leben ändert sich, als er den Auftrag erhält, die 17-jährige Klara zu unterrichten. Als deren Vater nach Deutschland ziehen will, flüchtet sie zu Bach. Die beiden beginnen eine Beziehung – und ein Leben in Einsamkeit auf dem Gehöft von Klaras Vater. Währenddessen wird Gnadental zu einem Ort, wo sich die Geschehnisse Russlands im Kleinen abspielen: Revolution, Bürgerkrieg, Hungersnot, Zwangskollektivierung.
An einem unheilvollen Frühlingstag überfällt eine Gruppe Banditen den Hof und vergewaltigt Klara. Sie wird schwanger, stirbt aber bei der Geburt ihrer Tochter. Zufall der Geschichte: Annchen wird genau an dem Tag geboren, an dem Lenin stirbt. Bach verschlagen die Ereignisse die Sprache. Der Stumme muss nun ein Kind aufziehen, von dem er nicht weiß, ob es sein eigenes ist. Als eines Tages auf seinem Bauernhof ein kirgisischer Waisenjunge auftaucht, wird Bach auch für ihn zu einem Vater.
„Wolgakinder“ ist das zweite Buch von Erfolgsautorin Gusel Jachina. Die gebürtige Tatarin stammt selbst von der Wolga. An der Kasaner Universität studierte sie Germanistik. Mehr als ein Jahr lang recherchierte Jachina die Geschichte der Wolgadeutschen. Bei Besuchen in den ehemaligen deutschen Ortschaften habe sie das Gefühl bekommen, dass die Wolgarepublik fast vergessen ist. „Daher wollte ich, dass diese Welt gezeigt wollte ein lebendiges Bild zeichnen“, sagt sie. Das ist ihr gelungen.
Manchmal beschreibt sie einige Szenen etwas zu detailverliebt. Schreckliches deutet sie indes nur an. Oft braucht es gar nicht viel Phantasie, um sich in das Geschehen hineinversetzen zu können. Mit Bach steht ein wahrer Antiheld im Zentrum, der sich zum Chronisten aufschwingt. Jedem Jahr gibt er einen Namen: 1918 – Jahr der verwüsteten Häuser, 1922 – Jahr der toten Kinder, 1933 – Jahr des großen Hungers.
Dabei sind nicht alle im Roman geschilderten Ereignisse historisch gedeckt, wie zum Beispiel ein Billardspiel zwischen Stalin und Hitler. Gleichzeitig ist „Wolgakinder“, das im russischsprachigen Original „Meine Kinder“ heißt, voller Symbole. Da ist auf der einen Seite Bach, der zwei Pflegekinder großzieht. Auf der anderen Seite steht Stalin, der zwar „Vater der Völker“ genannt wurde, diese aber terrorisierte. Während eines Besuchs in der Wolgadeutschen Republik wird Stalin als Riese dargestellt, die Deutschen sind hingegen klein und dürr. Dabei war Stalin mit 165 Zentimetern selbst nicht groß.
Der eigentliche Protagonist im Buch ist die Wolga. Unbeeindruckt vom Chaos in der Welt fließt sie einfach immer weiter und trägt dabei die Leichen von wer weiß wie vielen Menschen davon. Der Roman endet im Jahr 1938 mit dem Großen Terror, noch bevor Millionen Russlanddeutsche nach Sibirien und Zentralasien deportiert wurden.
Othmara Glas