Swetlana Alexijewitsch: „Wir sind für die Zukunft nicht bereit“

Es ist ihr erster Auftritt nach der Verleihung des Nobelpreises für Literatur in Russland: Die Schriftstellerin Swetlana Alexijewitsch sprach im Gogol-Zentrum über ihr Werk und darüber, was in der russischen Gesellschaft so alles schief läuft.

 

Die Journalistin und Schriftstellerin Swetlana Alexijewtisch bei der Lesung im Gogol-Zentrum in Moskau. / Foto: Irina Polyarnaya

Der Theatersaal im Gogol-Zentrum ist komplett in Dunkel gehüllt. Ehrwürdig raunt das Publikum im Flüsterton. So, als ob gleich eine Offenbarung auf der Bühne zu hören sein wird. „Das Treffen gehört zu jenen Ereignissen, von denen man auch seinen Enkeln erzählen wird“, kündigt Kirill Serebnikow, Leiter des Theaters, Swetlana Alexijewitschs ersten und voraussichtlich einzigen Auftritt in Russland an, nach dem ihr der Nobelpreis für Literatur 2015 verliehen wurde. Erst vor einigen Wochen stand das Gogol-Zentrum selbst in den Schlagzeilen, als eine OMON-Einheit das Theater durchsuchte. Der Vorfall blieb unangenehm in Erinnerung. Umso überraschender der Auftritt Serebnikows und die Entscheidung, eine Nobelpreisträgerin einzuladen, die öffentlich das ausspricht, was in Kunstkreisen in Moskau äußerst vermieden wird: Den Krieg in der Ostukraine, Syrien, Krim und Putin.

„Wir leben in barbarischen Zeiten“, sagt Alexijewitsch ohne Umschweife, nachdem sie auf dem hellerleuchteten Stuhl mitten auf der Bühne Platz nimmt. Kein Entsetzen, keine Entrüstung. Die 69-Jährige erzählt mit einer ruhigen Stimme und langen Pausen über ihr Werk, das nun fünf Bücher umfasst. Sie sind der sowjetischen und postsowjetischen Zeit gewidmet: Von den traumatischen Erlebnissen des Zweiten Weltkrieges, über Tschernobyl, den Afghanistankrieg bis zum Kollaps der Sowjetunion sind alle Momente eingefangen, die Teil der roten Utopie sind, wie die Autorin ihr vielstimmiges Werk bezeichnet.

„Das Leben ist nicht dafür da, um im Donbass, in Kabul oder in Syrien zu sterben“

Angekündigt war eine Lesung, die den Titel trug „Ich möchte nicht mehr über den Krieg schreiben…“. Am Ende wurde es aber eine Abhandlung genau über das, den Krieg. Als Journalistin im Afghanistankrieg erlebte Alexijewitsch, wie ein junger Soldat vor ihren Augen stirbt. „Es ist solch eine Verzweiflung, sich vorzustellen, dass irgendwo eine Mutter oder eine Großmutter auf diesen Jungen wartet, er aber nie lebend zurückkehren wird.“ In diesem Moment habe Alexijewitsch begriffen, dass sie Pazifistin ist. „Das Leben ist ein göttliches Geschenk. Und es ist nicht dafür da, um im Donbass, in Kabul oder in Syrien zu sterben.“

Und da war er, der wunde Punkt des Abends: der Bürgerkrieg in der Ostukraine. Viele Zuhören kamen genau aus diesem Grund hierher. Zu hören, was Alexijewitsch zu sagen hat. Viele erhofften sich einen Weckruf. Doch die Autorin tangierte diese Punkte nur. Vielleicht war es ihr Interview im TV-Sender „Doschd“, das sie behutsam über diese Themen sprechen ließ. Dort sagte sie klar: „Krim –  das ist Okkupation. Donbass – das ist ein durch Russland entfesselter Krieg. Solch einen Bürgerkrieg könnte man überall vom Zaun brechen, wo es wunde Punkte gibt. Selbst in einem so friedlichen Land wie Weißrussland, wo Katholiken auf Orthodoxe losgehen könnten.“ Dass dies auch umgekehrt der Fall sein kann, brauchte Alexijewitsch nicht im Interview zu betonen. Doch das wurde ihr wenige Stunden später zum Verhängnis, als es in der weißrussischen Presse hieß, Alexijewitsch versuche, einen Bürgerkrieg zu provozieren.

„Wir leben fast wie im Mittelalter“

Dass das Zitat der 69-Jährigen aus dem Zusammenhang gerissen wurde, zeigt auch, in welch dunklen Zeiten wir leben. Alexijewitschs Botschaft an diesem Abend heißt daher: Jeder sollte Widerstand leisten und auf der Seite des Guten stehen. Leider gäbe es ihrer Meinung nach heutzutage weniger Menschen, die nachdenken und ihre eigene Verantwortung tragen. Auch die heutige Religiosität in der russischen Gesellschaft habe nichts dazu beigetragen. „Sie hat alle wieder in einen Volkskörper kollektiviert. Und das ist ein Gefühlswesen, aber kein denkendes“, erklärt Alexijewitsch und verweist auf die kilometerlange Schlange vor der Christ-Erlöser-Kirche, die sich täglich bildet. „Wir leben fast wie im Mittelalter“, so die beißende Analyse. Dabei schien Anfang der 90er und Anfang 2000er Jahre, noch alles möglich zu sein. Doch der Freiheitsgedanke sei illusorisch gewesen, genauso wie er für einen Menschen sein muss, der im Lager war, und der nicht von heute auf morgen plötzlich frei sein kann.

Die russische Gesellschaft laufe vor den großen Fragen weg. Warum befindet sich Russland wieder im Kriegsmodus, lautet der große Elefant im Raum. „In der Apotheose unseres Sieges hat sich unser Verständnis vollkommen gewandelt, was es bedeutet, ein Mensch zu sein. Warum haben wir das vergessen, was unsere Großväter erzählt hatten?“. Erzählt wird viel über den Vaterländischen Krieg. Doch wichtiger wäre zu besprechen, wie man verhindert, dass man wieder töten muss. Was Schmerz und Leid bedeuten, weiß die Autorin zu Genüge. Wenn ihr junge Männer im Krieg erzählten, dass sie nur schießen, damit sie nicht getötet werden, weinten und zurück zu ihren Müttern wollten. „In diesem Moment hat der Krieg seinen Sinn verloren.“ Stattdessen sei die Militarisierung zurück. „Wir sind überhaupt nicht bereit für die Zukunft.“

Das Schreiben geht weiter…

Im Gespräch wechselt Alexijewitsch zwischen Ihr und Wir. Als was definiert sich eigentlich die Autorin selbst? „Ich habe drei Häuser“, lautet ihre Antwort. Ihre Mutter sei Ukrainerin. Ihr Großvater Weißrusse. Und die russische Kultur habe ihr Leben geprägt. Dass Alexjiewitsch auf Russisch und nicht auf Weißrussisch schreibt, wird in ihrem Heimatland kritisiert. „Ich habe mich mit der roten Utopie beschäftigt, sie sprach Russisch. Es wäre blöd gewesen, auf Weißrussisch zu schreiben, denn das würde bedeuten, dass ich die Erinnerungen übersetzen müsste“, erklärt Alexjiewitsch.

Und was kommt danach? Ein Buch über die Liebe. Und den Tod. Nach fünf Büchern über den Kommunismus und den Sozialismus habe sie alles gesagt, was sie sagen konnte. Das Territorium des Glücks sei dagegen völlig unbekannt. Doch ihrer Technik, der Stimmen-Collage, wird sie treu bleiben. Im kommenden Werk sollen Menschen, die kurz vor dem Sterben sind, der Frage nachgehen: Was war es, das Leben?

Katharina Lindt 

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