Frau Schulmeisters große Reise durch das 20. Jahrhundert

Erst verlor sie ihre Heimat und dann beinahe ihr Leben: Margarete Schulmeister wurde als Deutsche an der Wolga geboren, so wie Generationen ihrer Familie vor ihr. Vielleicht hätte sie es einmal ihrem Vater gleichgetan und in Moskau studiert, aber ein Beschluss der Sowjetführung sorgte vor 80 Jahren dafür, dass die Wolgadeutschen in alle Winde verstreut wurden und für die damals 16-Jährige eine Odyssee begann, die sie kreuz und quer durch die Sowjetunion führte. Mit 96 Jahren hat die frühere Lehrerin der MDZ jetzt in St. Petersburg ihre Geschichte erzählt.

Margarete Schulmeister vor ihrer geliebten Petrikirche in St. Petersburg, wo sie schon seit 25 Jahren Gemeindemitglied ist (Foto: Tino Künzel)

Die Kolonisten und die Wolga

Mein Name ist Margarita Konstantinowna Schulmeister. Zu Deutsch Margarete. Oder Gretel. Ich bin am 16. Juni 1925 in Kamyschin am Unterlauf der Wolga geboren. Mein Vater Konstantin und meine Mutter Olga waren Wolga­deutsche in fünfter Generation. Papas Vorfahren stammten aus Hessen und hatten sich in Bähr angesiedelt, einem katholischen Dorf, auf Russisch Kamenka. Die Wurzeln von Mamas Familie reichen in den Schwarzwald zurück. Ihr Heimatort an der Wolga war das lutherische Mühlberg, heute Schtscherbakowka.

Es gibt einen Spruch, der geht so: „Die erste Generation erntete den Tod, die zweite die Not, die dritte das Brot.“ Als meine Urahnen an der Wolga anlangten, da war das beileibe kein Paradies. Sie wussten nicht, was sie hier erwartete. Wo sie herkamen, da waren sie Wald, Mittelgebirge, gemäßigtes Klima gewohnt. Warum folgten sie überhaupt dem Ruf von Katharina der Großen? Der Grund waren die ständigen Kriege mit Frankreich und die damit verbundene Not. Der schlimmste war der Siebenjährige Krieg von 1756 bis 1763.

Noch als Ruine eine Sehenswürdigkeit: die katholische Marienkirche in Kamenka (Bähr), dem Heimatdorf von Margarete Schulmeisters Vater im Wolgagebiet. Hier hat sie 1929 mit ihrer Oma Ostern gefeiert, bevor die Kirche geschlossen wurde. (Foto: Tino Künzel)

Da fiel das Manifest von 1763, mit dem Katharina Ausländer nach Russland einlud, auf fruchtbaren Boden. Man hat ihnen versprochen, dass sie dort so viel Land bekommen könnten, wie sie wollten. Außerdem wurden zahlreiche Privilegien in Aussicht gestellt: die Befreiung vom Militärdienst, von Steuern, freie Religionsausübung, Geld für den Bau einer kleinen Kirche. Das wurde auch alles eingehalten. Aber dass das Klima in der Steppe an der Wolga so extrem ist, darauf hat sie niemand vorbereitet. Im Sommer über 40 Grad, im Winter unter minus 40 Grad – das habe ich selbst erlebt. Manchmal zwei Jahre kein Tropfen Regen. Was kann man unter solchen Bedingungen überhaupt anpflanzen und wann, in welcher Reihenfolge? Das mussten die Kolonisten alles erst lernen.

Und dann die Krankheiten! Die Malaria! Tausende sind daran gestorben. Sogar in meiner Kindheit sind wir daran noch erkrankt, nur dass es inzwischen Medizin dagegen gab.

Die beste Zeit im Leben

Aber in der Generation meiner Eltern ging es längst nicht mehr ums nackte Überleben. Man wollte sich in die russische Gesellschaft integrieren und seinen Kindern dafür eine ordentliche Bildung ermöglichen. Mein Vater nahm 1913 ein Studium an der Landwirtschaftsakademie in Moskau auf, die zu Sowjetzeiten nach Timirjasew benannt wurde, einem berühmten Biologen, was auch gut so ist.

Papa freundete sich in Moskau mit Wawilow an. (Anm. d. Red.: Nikolaj Wawilow war einer der führenden Biologen und Genetiker seiner Zeit, heute ist das St. Petersburger Institut für Pflanzenindustrie nach ihm benannt.) Und als er 1918 sein Studium abgeschlossen hatte, bot ihm Wawilow an, Direktor einer wissenschaftlichen biologischen Station in der Nähe von Kamyschin zu werden. Auf diesem landwirtschaftlichen Versuchsgelände wurde erforscht, wie man die Steppe fruchtbar machen konnte. Dazu wurden die besten Absolventen der Akademie herangezogen. Papa hat auch noch ein paar fleißige Studenten bekommen. Alle strotzten vor Enthusiasmus, die konnten Berge versetzen.

Meine Mama durfte damals noch nicht studieren. Aber ihr Gymnasialabschluss berechtigte sie dazu, als Lehrerin für Französisch und Deutsch zu arbeiten. Die wissenschaftliche Station suchte eine Übersetzerin für ausländische Fachliteratur und sie hat diese Stelle angenommen. So haben sich meine Eltern kennengelernt und 1919 geheiratet.

Landschaft am Unterlauf der Wolga bei Kamyschin, wo Margarete Schulmeister zur Welt kam und ihre ersten Lebensjahre verbrachte (Foto: Tino Künzel)

Mit Hilfe von Fachleuten aus Kamyschin hat man in der Steppe tatsächlich Wasser gefunden und einen großen Damm gebaut. Wasser war die Hauptsache, damit konnte die Arbeit beginnen. Vater hat für die Mitarbeiter auch kleine Häuser bauen lassen. Aus dem Baumaterial, das da war: Lehm, Mist und Stroh. Alle konnten sich Obst- und Gemüsegärten anlegen, eine Kuh anschaffen, Hühner. Es wurden Bäume angepflanzt, um die Ufer des Damms zu befestigen.

Ohne die Gärten wären wir alle verhungert. Denn mit den Kommunisten war der Hunger gekommen. Doch bei uns gab es alles: Äpfel, Birnen, Pflaumen, Kirschen, Himbeeren, Erdbeeren und – das Beste – Melonen! Als Kinder haben wir mit dem Messer das oberste Stück abgeschnitten und das Fruchtfleisch aus der Mitte, wo es keine Kerne gibt, herausgelöffelt. Dann haben wir das Deckelchen wieder draufgesetzt und uns an die nächste Melone gemacht, bis die Erwachsenen uns dabei erwischt haben.

Die Leute aus den umliegenden Dörfern kamen, um sich dieses Weltwunder anzuschauen. Denn es hieß ja immer: Hier wächst nichts. Bitteschön, es wächst alles, wenn man tüchtige Hände, einen klugen Kopf und ein brennendes Herz besitzt. Wären die Russlanddeutschen in ein Land gekommen, wo die Arbeit geschätzt wird – sie wären zu Rockefellers und Rothschilds geworden.

Das war die beste Zeit im Leben meiner Eltern. Und für uns Kinder auch.

Gute Deutsche, schlechte Deutsche

1930 zogen wir nach Saratow. Wawilow hat meinem Vater gesagt, er müsse jetzt mal eine Stufe höher klettern. So wurde er ans Institut für Genetik berufen. Ein schönes, altes Gebäude am Stadtrand, schöne Wohnhäuser, alles sehr grün. Von dort waren es nur 15 Gehminuten zur Straßenbahn. Saratow hatte sein Opern- und Balletttheater, sein Schauspielhaus, sein Konservatorium. Da waren wir oft. Mit zehn Jahren hatte ich schon alle möglichen klassischen Opern gesehen. Ich habe auch Klavier spielen gelernt.

Saratow ist eine alte Kaufmannsstadt. Ich würde sagen, dass ein Drittel der Einwohner damals Deutsche waren. Die Leute gingen am liebsten zum deutschen Arzt, zum deutschen Schneider. Und Sie hätten mal die Märkte sehen sollen! Alle wollten nur deutsche Butter, deutsches Fleisch kaufen. Aber es dauerte nicht mehr lange, da mussten die Deutschen fort.

Die größte Ansammlung alter Kaufmannshäuser findet sich in Saratow auf dem Kirow-Prospekt. Bis 1917 hieß das, was heute eine Fußgängerzone ist, Deutsche Straße. (Foto: Tino Künzel)

Papa forschte fünf Jahre am Institut für Genetik. Aber was ist Genetik? Das ist die Vererbungslehre. Für Stalin war das ein Gräuel. Denn die Kommunisten wollten ja den „neuen Menschen“ züchten. Und deshalb hat er als Erstes die Biologie und die Genetik vernichtet.

1935 bekam mein Vater eine neue Stelle an einem Institut im Stadtzentrum. Er war nun Prorektor, der Stellvertreter des Rektors für den wissenschaftlichen Teil. Eine große Ehre. In dieser Funktion wurde er 1938 verhaftet. Er soll seine Studenten zu terroristischen Akten aufgewiegelt haben, steht in dem Urteil, das ich nach Vaters Tod 1995 bekommen habe. (Anm. d. Red.: Konstantin Schulmeister wurde 100 Jahre alt und starb bei der Arbeit an seinem Schreibtisch.)

Der „Große Terror“ hatte sich abgezeichnet. Selbst die Verhaftung kam für uns nicht mehr unerwartet. Denn man hat die Besten abgeholt. Die mit einer gewissen gesellschaftlichen Stellung. Zuvor hatte man ja bereits die fähigsten Bauern „entkulakisiert“. Mein Großvater war auch betroffen, er wurde aus seinem Haus geschmissen. Man hat die Bauern nach Norden oder nach Sibirien verbannt, viele sind umgekommen. Das war die erste Welle der Verfolgung.

„Ihr Mann lebt“

Wie war das denn in der Zeit des „Großen Terrors“? Der NKWD einer Region bekam eine Liste, wie viele Menschen in einem bestimmten Zeitraum zu verhaften und wie viele davon zu erschießen oder zu Lagerhaft zu verurteilen sind. Dafür brauchte es überhaupt keinen formalen Anlass, man hat die absurdesten Anschuldigungen erhoben, dafür „Zeugen“ präsentiert und „Geständnisse“ erpresst. Wer nicht unterschreiben wollte, der wurde eben gefoltert.

Auch Wawilow (1941 zum Tode verurteilt und 1943 im Gefängnis gestorben – d. Red.) geriet in die Mühlen dieses Systems. In dem Buch „Macht und Wissenschaft: Die Zerschlagung der Genetik in der Sowjetunion“ von Walerij Sojfer, selbst ein namhafter Wissenschaftler, ist das erste Verhör beschrieben. Der Ermittler fragt: „Wer bist du?“ Natürlich hat man die Verhafteten geduzt. Wawilow antwortet, er sei Wissenschaftler. Nein, sagt der Ermittler, du bist ein Sack Scheiße.

Und bei Vater war es ganz genauso. Nach ungefähr einem Jahr hat man ihn am 29. April 1939, seinem Geburtstag, zum Tod durch Erschießen verurteilt. Von nun an musste er allein in der Todeszelle sitzen. Jeden Augenblick konnte die Tür aufgehen und das Urteil im Korridor vollstreckt werden. Aber es verging ein Tag, ein zweiter, ein Monat, zwei Monate. Was war geschehen? Am 10. April 1939, also noch vor dem Todesurteil für meinen Vater, wurde Jeschow verhaftet (und im Februar 1940 hingerichtet – d. Red.), der Chef des NKWD, der sowjetischen Stasi. Und nun herrschte in diesem riesigen Apparat Verunsicherung. Kommen wir auch dran, haben sich die Mitarbeiter gefragt. Deshalb wurde die Vollstreckung von Todesurteilen erst einmal ausgesetzt. Meinen Vater haben sie aus der Zelle geführt und ihm gesagt, dass seine Strafe zu Lagerhaft umgewandelt wurde.

Wir wussten von all dem überhaupt nichts. Hatte man jemanden verhaftet, dann war das so, als ob der Mensch nicht mehr existierte. Im Juli 1939 klopfte es eines Nachts ganz leise an der Tür. Da hat die Mama aufgemacht, sie schlief sowieso nicht und rechnete die ganze Zeit damit, dass sie selbst abgeholt würde. Vor der Tür stand eine Frau und sagte: „Fragen Sie nicht, woher ich das weiß, aber ihr Mann lebt.“ Da war Vater schon auf dem Weg nach Wladiwostok, von dort gingen die Schiffe an die Mündung der Kolyma. Dieses Gebiet war die Goldgrube von Russland und ist es bis heute. Dort hat der Papa arbeiten müssen. Die erste Nachricht von ihm, einen kleinen Zettel ohne Briefmarke, haben wir erst aus dem Lager bekommen. Bis die Familie wiedervereint war, dauerte es vom Zeitpunkt seiner Verhaftung an 19 Jahre und drei Monate.

Eine Ehe als Rettung

Mein neuntes Schuljahr sollte am 1. September 1941 beginnen. Aber wir wussten schon, dass unsere Schule, ein schönes, altes Gebäude mit großen Fenstern, zu einem Krankenhaus für Verwundete von der Front umfunktioniert würde. Wo unser Unterricht stattfinden sollte, hatte man uns noch nicht mitgeteilt. Am Abend des 30. August wieder ein Klopfen an der Tür. Es waren drei Polizisten, gebügelt und geschniegelt, „zum Kotzen höflich“, wie meine Mama zu sagen pflegte. Sie sagten, sozusagen zu unserem eigenen Schutz würden wir wegen der näher rückenden Front weiter nach Osten gebracht, bis der Krieg vorbei sei. Wir sollten uns reisefertig machen und Lebensmittel für zwei Wochen bereithalten. Mitnehmen dürften wir nur, was wir selbst tragen konnten.

Wir mussten also alles zurücklassen, was die Familie besaß. Unsere Bibliothek! Die war doch unser ganzer Stolz und der Lieblingsort in der Wohnung. Das deutsche Klavier, das Papa angeschafft hatte, weil er viel Wert darauf legte, dass wir eine gute Erziehung bekamen!

Und was sollte das eigentlich heißen, „Lebensmittel für zwei Wochen“? Brot gab es nur auf Karten, eine bestimmte Ration für den betreffenden Tag. Wo sollten wir Proviant für zwei Wochen im Voraus hernehmen? Geld hatten wir auch keins, denn als Vater verhaftet wurde, hatte man uns alles abgenommen.

Mama ging es schon lange nicht gut. Aber nun fiel sie ins Bett und konnte einfach nicht mehr aufstehen. Sie war wie gelähmt und ich von nun an praktisch auf mich allein gestellt. Meine ältere Schwester Ilse stand ursprünglich auch auf der Liste. Sie hatte damals schon die Schule abgeschlossen und studierte an der Theaterschule in Moskau. Nach dem Studium wollte sie ihren Lehrer heiraten, einen Juden, der sie in der Schule in Theaterkunst unterrichtet hatte und zehn Jahre älter war als sie. Beide kamen nun nach Saratow. Der junge Mann war bereits als Freiwilliger an der Front gewesen und verwundet worden.

Man wusste: Wenn deutsche Frauen nichtdeutsche Männer hatten, dann konnten sie bleiben. Deshalb hat man sich überlegt, die Ehe schon jetzt zu schließen. Doch beim Standesamt wurden sie abgewiesen, dort hatte man Anweisung, Mischehen mit deutschen Frauen nicht mehr zu registrieren. Selbst daran hatten sie also gedacht! Doch der Lehrer hat sich damit nicht abgefunden und beim NKWD dermaßen Dampf abgelassen, dass man für ihn als Frontkämpfer eine Ausnahme machte. Ilse bekam ein Papier mit Stempel, wurde von der Liste gestrichen und fuhr nach Moskau zurück, der Lehrer wieder an die Front. Mama und ich wurden deportiert. „Deportation“ sagte man damals natürlich nicht, das Wort kannten wir überhaupt nicht. Es war angeblich eine zeitweilige Maßnahme.


Hintergrund: Deportation der Sowjetdeutschen 1941

Der Historiker Arkadij German aus Saratow hat ermittelt, dass in den Jahren 1941 und 1942 insgesamt 451.754 Wolgadeutsche zwangsumgesiedelt wurden. Betroffen waren hauptsächlich Menschen aus der deutschen Wolgaautonomie, aber auch Zehntausende aus angrenzenden Gebieten. Etwa drei Viertel wurden nach Sibirien deportiert, der Rest nach Kasachstan.

Grundlage war ein Erlass des Präsidiums des Obersten Sowjets der Sowjetunion vom 28. August 1941. Darin wurden die Wolgadeutschen der Kollaboration mit dem Kriegsgegner Deutschland beschuldigt. Man verfüge über glaubhafte Informationen, nach denen es in den betreffenden Gebieten „Tausende und Zehntausende Diversanten und Spione“ gebe. Da die Bevölkerung das nicht gemeldet habe, müsse man davon ausgehen, dass sie Feinde des sowjetischen Volkes und der sowjetischen Führung verstecke. Allein aus Saratow gingen daraufhin zwischen dem 5. und 16. September 13 Transporte mit über 30.000 Menschen nach Osten ab.

Aber die Deutschen wurden nicht nur von der Wolga deportiert, sondern auch aus anderen Landesteilen wie etwa von der Krim oder aus Leningrad und dem Umland. In diesen Fällen gab es nicht einmal eine Legende wie bei den Wolgadeutschen. Es wird geschätzt, dass Zwangsumsiedlung und Zwangsarbeit ungefähr ein Drittel der 1,5 Millionen Sowjetdeutschen das Leben kosteten. Erst 1955 wurde die Meldepflicht für die Deportierten an ihren neuen Wohnorten abgeschafft. Und es dauerte bis 1972, ehe sie frei wählen durften, wo sie leben möchten.


Im Viehwaggon nach Osten

Wir kamen auf den letzten Transport, der von Saratow abging, das war am 16. September 1941. Man holte uns mit einem Lastwagen ab, schon das fiel Mama schwer. Unterwegs haben wir noch an einem Krankenhaus gehalten, da stieg eine Frau mit einem Neugeborenen zu, das Kindchen war drei Tage alt. Aus einem anderen Haus musste eine alleinstehende alte Frau im Rollstuhl mit. So ging es zum Zug, der nicht etwa vom Bahnhof abfuhr, sondern außerhalb der Stadt in der Steppe. Dort wimmelte es schon vor Menschen, als wir abgeladen wurden: Alte und Junge, Kranke und Gebrechliche, Männer und Frauen, viele Kinder, die Familien waren ja damals groß. Es waren Tausende, alle mit ihren Siebensachen.

Und dann hieß es einsteigen – in Viehwaggons. Dort gab es nichts außer Stroh auf dem Boden und Pritschen für 40 Personen. Keine Toilette, keine Fenster, nichts. Fragen Sie nicht, wie die Leute, die nicht mehr gut zu Fuß waren, in den Waggon gehievt wurden.

In dem Moment habe ich mit meinen 16 Jahren verstanden, dass wir aus Sicht unserer Bewacher mit ihren Flinten und aus Sicht ihrer Vorgesetzten keine Menschen mehr waren, sondern eine Herde Vieh. Einmal am Tag wurde uns ein Eimer Wasser in den Waggon gestellt. Morgen und abends mussten wir alle raus und danach wieder rein. Ich habe meine Mama in der ganzen Zeit praktisch getragen. Was wir gegessen haben, weiß ich nicht mehr.

Ankunft in der Fremde

Gesprochen wurde auf der Fahrt fast kein Wort. Die Leute waren so erschüttert und so niedergeschlagen, dass sie gar nicht mehr wussten, was sie denken sollen. Und dann fing das Sterben an. Die Kinder erkrankten an Scharlach, an Masern. Das ging wie ein Lauffeuer von einem Waggon zum nächsten.

Manchmal haben wir irgendwo angehalten, da mussten die Mütter ihre toten Kinderchen abgeben. Die wurden wie Holz auf die Ladefläche eines Wägelchens gelegt. Dieses Bild vergisst man sein Lebtag nicht. Wer weiß, in welchem Graben man die Kinder verscharrt hat.

Eines Nachts wurde die Tür aufgeschoben. Für uns und einige andere war hier Endstation, während der Zug weiterfuhr. Im Dunkeln konnten wir kaum etwas erkennen, nur dass der Bahndamm hoch war. Den Grund dafür erblickten wir am nächsten Morgen: Es war eine sumpfige Gegend. Anfang Oktober herrschten schon Fröste, aber wir mussten noch einige Tage unter freiem Himmel verbringen, bis wir mit Fuhren aus Kamelen 60 Kilometer weiter ins Land gebracht wurden, zur Siedlung Nummer zwölf. Mit uns geredet hat nie jemand, geschweige denn etwas erklärt. Deshalb erfuhren wir erst dort, wo wir waren: im Norden Kasachstans.

Aufgeschrieben von Tino Künzel

Die Fortsetzung des Beitrags über Margarete Schulmeister

In eigener Sache: Wie dieser Beitrag entstand

Verfolgung, Krieg, Vertreibung – wenn man eine Zeitmaschine hätte, man würde ausgerechnet in die 30er und 40er Jahre der Sowjet­union wohl kaum zurückreisen wollen. Die damaligen Ereignisse wirken bis in die Gegenwart nach. Heute noch mit Augenzeugen darüber sprechen zu können, ist ein unfassbares Privileg – und Margarete Schulmeister in dieser Hinsicht der Glücksfall schlechthin. Eine fantastische Erzählerin, die sich an Begebenheiten, Zahlen und Namen erinnert, als sei es gestern gewesen. Die selbst in hohem Alter nicht nur über einen immer noch scharfen Verstand verfügt, sondern auch eine scharfe Zunge. Wenn ihr etwas nicht gefällt, dann sagt sie das auch und nimmt dabei kein Blatt vor den Mund. Die Deutschen  – zumindest die Westdeutschen, denn nahezu ihre gesamte Verwandtschaft hat Russland verlassen und lebt heute im Westen Deutschlands, vornehmlich bei Stuttgart, weshalb sie dort schon oft zu Besuch war – sind ihr zu stolz, „dabei kennen sie ihre eigene Geschichte nicht“. Und auch der MDZ-Redakteur hat sie mit seinen Fragen das eine oder andere Mal fast zur Verzweiflung getrieben.

Margarete Schulmeister gebührt großer Dank, dass sie sich auf dieses Gespräch über ihr Leben überhaupt eingelassen hat. Sie führte es in bestem Deutsch, mit einem schwäbischen Einschlag. Wie sehr das Ganze sie anstrengte, ließ sie sich nicht anmerken. Und redete letztlich nicht zwei Stunden, wie angedacht, sondern sechs, verteilt auf zwei Tage. Wobei auch das nur „ein Tropfen auf den heißen Stein“ gewesen sei, „ein Prozent dessen, was ich erzählen könnte“, meinte sie im Nachhinein.

Ein herzlicher Dank geht auch an das Deutsch-Russische Begegnungszentrum (drb) in St. Petersburg, wo Schulmeister Stammgast ist und das sich am berühmten Newskij-Prospekt befindet, vis-à-vis der lutherischen Petri­kirche. Das drb hat das Gespräch freundlicherweise vermittelt und seine Räumlichkeiten dafür zur Verfügung gestellt.

Tino Künzel

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