Ihr Vater war Deutscher, Ihre Mutter Russin, Sie sind in Sibirien geboren, aufgewachsen sind Sie in der DDR. Als was haben Sie sich gefühlt?
Als ich sehr klein war und mindestens so gut Russisch sprach wie Deutsch, da habe ich mich vorwiegend russisch gefühlt. Dass ich aus der Sowjetunion komme, empfand ich überhaupt nicht als etwas, wofür ich mich schämen müsste. Ich habe erst sehr viel später verstanden, dass es Leute gibt, die Russen nicht leiden können, sie als Untermenschen oder als Iwans bezeichneten. Ich habe keine irrationalen Ängste vor Russland. Später habe ich mich als DDR-Bürger gefühlt.
Und wie sehen Sie sich heute?
Es ist keine Frage, die mich ständig beschäftigt. Mit der Frage „Wer bin ich?“ ist es wie mit dem Schälen der Zwiebel. Wenn man lange genug schält, bleibt nichts mehr übrig. Eine Zeit lang habe ich meine russische Identität sehr stark vergessen. Aber manchmal merke ich, dass ich mit dem Land mehr verbunden bin, als ich es vielleicht wahrgenommen habe.
Das letzte Mal waren Sie 2004 auf Recherchereise in Russland. Wie hat sich das Land seit Ihrem letzten Besuch verändert?
In den letzten Jahren war ich ein paar Mal hier, aber da hat sich nicht viel geändert. Den eigentlichen Sprung habe ich 2004 erlebt. Davor war ich 30 Jahre lang nicht in Russland. Das war stark! Natürlich war die Jelzin-Zeit schon vorbei, doch der wildgewordene Kapitalismus war immer noch stark zu spüren: diese grelle Reklame, oft bis zur Widerlichkeit. In Russland hat es seitdem ungeheure Fortschritte gegeben, die die Menschen im Westen gar nicht würdigen können.
Eine Phase, in der Russland nach einer neuen Identität suchte.
Mit russischem Nationalismus muss man wie mit jedem Nationalismus vorsichtig sein. Und trotzdem ist es sinnlos, den Westen nachzuahmen und die eigene Identität auf diese Weise aufs Spiel zu setzen.
Wird Russland weiterhin ein Teil Ihres Lebens bleiben?
Natürlich. Aber eigentlich ist mein Roman „In Zeiten des abnehmenden Lichts“ kein Buch, in dem der Autor sich mit seiner russischen Identität rumschlägt. Was ich aktuell schreibe, ist die Geschichte einer Deutschen in Russland.
In Ihrem neuen Roman „Follower“ begegnet der Leser dem Enkel aus Ihrem ersten Roman „In Zeiten des abnehmenden Lichts“. Wie kam es zu dieser Verbindung?
Ich hatte die Idee, meinen fiktiven Enkel zu beschreiben. Der Protagonist Alexander Umnitzer im Buch „In Zeiten des abnehmenden Lichts“ ist ein Alter Ego von mir. Da lag es nahe, diese beiden Enkel, den von Alexander Umnitzer und meinen fiktiven Enkel, zu identifizieren. Außerdem hatte ich Lust, die Familiengeschichte einzubinden und sie andererseits abzuschneiden, weil ich die Abgeschnittenheit dieses fiktiven Enkels von der Geschichte zeigen wollte. Seine Geschichtsvergessenheit, so wie ich es empfinde.
Ist das eine moderne Entwicklung?
Durchaus. Geschichtsvergessenheit und Zukunftsbesessenheit zugleich. Weil die Welt nur noch von der Zukunft denkt. Es hat sicherlich mit dem Kapitalismus zu tun. Und damit, dass alle immer fürchterliche Angst haben, bei irgendwelchen Entwicklungen zu spät zu kommen.
Apropos Kapitalismus. Kann man Ihren Roman als Kritik an unserer hochtechnisierten Zeit lesen?
Ich weiß nicht, ob Literatur kritisiert. Ich habe versucht, über eine Art totale Informationsgesellschaft zu schreiben. Die Menschen tragen Daten-Brillen. In der Realität hat sie erst mal einen Rückschlag erlitten, sie wird aber in einer anderen Form zurückkehren. Ich habe mir versucht vorzustellen, wie es ist, wenn man in diese Informationswelt eintaucht und ständig mit allem verkabelt ist. Welche Konsequenzen hat das? Und vor allem: Was bedeutet es für das Lebensgefühl?
Sie haben Mathematik studiert. Wie kam der Sprung zur Literatur?
Schreiben wollte ich schon immer. Ich habe Mathematik studiert, weil man einen bürgerlichen Beruf haben sollte. Darauf hat mein Vater gedrungen. Und so falsch war es auch nicht, weil ich etwas Lebenserfahrung gesammelt hatte. Und der Sprung vom Theater zur Prosa kam, als das Theater immer weniger Text gebraucht hat.
Manche sagen ja das Ende der Literatur voraus.
Die Bedeutung, die die Literatur noch zu Zeiten von Hemingway und Pasternak hatte, ist längst vorbei. Ich glaube, dass die Literatur noch mehr zurückgedrängt wird. Es werden nicht mal Eliten, sondern Teile der Eliten lesen. Das macht mich traurig. Mal ganz abgesehen davon, dass wichtige Dinge, wie etwa Aufmerksamkeit oder Empathie beim Lesen extrem trainiert werden. Die technischen Medien sind vergleichsweise oberflächlich und zielen auf das Prinzip der schnellen Belohnung. Die Befriedigung ist schnell, aber flach.
Das klingt auch in Ihrem Roman „Follower“ an.
Der Mensch, den ich da schildere, hat die Bücher seines Großvaters, der Schriftsteller war, nicht mehr gelesen. Er ist ein Illiterat, dem die Literatur suspekt ist. Schriftsteller sind für ihn seltsame Globalisierungskritiker. Meine Figur ist durch ihre totale Eingebundenheit in die Informationsgesellschaft vollkommen angepasst. Es gibt keinen Spielraum mehr für die Seele.
Das Interview führte Katharina Lindt.
Zur Person
Eugen Ruge wurde 1954 in Soswa im Gebiet Swerdlowsk geboren. Dort lebte sein Vater in der Verbannung, nachdem er als Kommunist 1933 in die Sowjetunion geflohen war und während seiner Haft im sibirischen Arbeitslager seine Frau kennengelernt hatte. Im Jahr 1956 durfte die Familie nach Ost-Berlin umsiedeln. Nach dem Mathematikstudium begann Ruge seine schrift-stellerische Laufbahn. Seitdem wirkt er als Autor für Theater, Funk und Film. 2011 gewann er mit seinem Roman „In Zeiten des abnehmenden Lichts“ den Deutschen Buchpreis. Zuletzt erschienen im Rowohlt Verlag auch „Follower“, „Cabo de Gata“ und „Annäherung.