Ein Fußballspiel für die Geschichtsbücher

Kaum waren die Deutschen in Stalingrad vernichtend geschlagen worden, da wurde in der geschundenen Stadt vor 80 Jahren wieder Fußball gespielt. Das 1:0 von Dynamo Stalingrad gegen Spartak Moskau war für die Sowjetpresse zunächst nur eine Randnotiz, während es in England ein gewaltiges Echo hervorrief. Als „Spiel auf den Ruinen Stalingrads“ hat es Geschichte geschrieben.

Am 1. Mai wurde in Wolgograd ein Retro-Match in Erinnerung an das Spiel vor 80 Jahren veranstaltet. (Foto: Michail Schapajew/Russischer Fußballverband)

Am 2. Mai 1943, nur drei Monate nach dem Ende der Schlacht von Stalingrad, wurde in der Stadt an der Wolga ein Fußballspiel ausgetragen. Per Sonderflug reiste dafür über die Front hinweg in zwei Flugzeugen und mit Geleitschutz von Jagdfliegern die Mannschaft von Spartak Moskau an. Sie hatte im Jahr zuvor die erste Moskauer Meisterschaft in Kriegszeiten und auch den Pokal gewonnen. Im Herbst 1942 deklassierte Spartak alle Gegner und erzielte im Schnitt über vier Tore pro Spiel. In 14 Meisterschafts- und Pokalspielen gab es 13 Siege und ein Unentschieden.

Den Moskauern stand Dynamo Stalingrad gegenüber, ein in aller Eile zusammengestoppeltes Kollektiv aus Angehörigen des Volkskommissariat des Inneren und in der Stadt verbliebenen Spielern von Traktor. Es war jenes Traktor Stalingrad gewesen, das am 24. Juni 1941 in Donezk das letzte Punktspiel der sowjetischen Meisterschaft bestritten hatte, bevor der Spielbetrieb nach dem deutschen Überfall zum Erliegen gekommen war. Die meisten Spieler wurden – wie das Traktorenwerk selbst – nach Tscheljabinsk im Ural evakuiert.

Der haushohe Favorit unterlag 0:1

Spartak brachte Geschenke aus Moskau mit, darunter Spielkleidung, Bälle und Volleyballnetze. Die Gastgeber blieben ein „Gegengeschenk“ auf dem Platz schuldig und entschieden das Spiel mit 1:0 für sich. Das einzige Tor gelang Stürmer Alexander Moissejew mit einem Schuss in den Winkel, der nicht unhaltbar schien.

Augenzeugen berichteten, Spartak habe das Freundschaftsspiel  dominiert, mit viel Schwung über die Flügel angegriffen und sehenswert kombiniert, aber kaum aufs Tor geschossen. Nicht auszuschließen, dass den Gästen in Moskau mit auf den Weg gegeben worden war, den Stalingradern nicht die Stimmung zu verderben. Vielleicht forderte aber auch nur eine schlaflose Nacht ihren Tribut. Der für den 1. Mai geplante Abflug war wegen eines möglichen deutschen Luftangriffs auf den Spieltag verschoben worden.

„Ein Bild furchtbarer Zerstörung“

Damit soll aber nicht die Leistung von Dynamo vor 10.000 Zuschauern im Stadion „Asot“ geschmälert werden. Das Spielfeld war zuvor von Einwohnern und Soldaten wieder hergerichtet und von Splittern befreit worden. Erst dadurch wurde das Fußballfest in einer Stadt, die nach Beschuss und Straßenkämpfen fast dem Erdboden gleichgemacht war, überhaupt möglich.

Wie sehr Stalingrad unter dem Krieg gelitten hatte, davon konnte sich Clementine Churchill (1885-1977), die Ehefrau des britischen Premierministers Winston Churchill und Vorsitzende einer britischen Hilfsorganisation für Sowjetrussland, zwei Jahre später selbst überzeugen. In ihrem Buch „Mein Besuch in Russland“, das 1945 in London auf Englisch und Russisch gedruckt wurde, schreibt sie: „Uns bot sich ein Bild furchtbarer Zerstörung … In einer Stadt wie Stalingrad führt der Gedanke an das erschütternde Leid und die menschlichen Opfer, die der faschistische Eroberungsfeldzug gekostet haben, zu totaler Schockstarre. Es muss aber auch gesagt werden, dass die Russen die Stadt sofort als Sprungbrett für ihre Angriffe genutzt haben, sobald die letzten Deutschen zurückgeschlagen waren.“

Englische Presse berichtet groß

Natürlich meinte Clementine Churchill keine Angriffe auf dem Fußballplatz, sondern die Wende im Zweiten Weltkrieg. Doch vom Spiel im Mai 1943 muss sie gewusst haben, bevor sie überhaupt nach Stalingrad gekommen war. Denn im Unterschied zu den großen Moskauer Zeitungen, die sich mit einer paar pflichtschuldigen Zeilen dazu begnügten, sorgte es in Großbritannien, wo die Football League in den Kriegsjahren eingestellt war, sorgte die Nachricht über Fußball in der „Stadt der Ruinen“ für Furore. Die „Times“ widmete dem Spiel gleich eine ganze Seite. Dort hieß es: „Wenn die Russen in Stalingrad Fußball spielen, dann müssen sie überzeugt davon sein, dass alles gut wird.“

Der namhafte Sportjournalist Bruce Harris vom „Evening Standard“ telegrafierte eigens einen Artikel für die sowjetische Zeitung „Roter Sport“ (später und bis heute „Sowjetski Sport“) durch, in dem er voller Bewunderung konstatierte: „Stalingrad – dieser Name ist zum Symbol für unbeugsamen Willen, für Mut und Sieg geworden. Wer hätte gedacht, dass nach allem, was diese Stadt durchmachen musste, Stalingrad eine Fußballmannschaft aufs Feld schicken kann? Das muss ein Ausdruck des Stalingrader Geistes sein, wie er russischen Soldaten innewohnt, eines solch unbeirrbaren Geistes, dass ihn nichts brechen kann.“

Spenden flossen umso reichlicher

Die Zeitungsartikel gaben auch einer Spendenkampagne in Großbritannien Auftrieb, die nicht nur den Menschen in Stalingrad, sondern der gesamten Sowjetunion zugutekommen sollte. Im Mai 1943 wurde die Stiftung „Stalingrader Krankenhaus“ gegründet, die fortan Gelder für ein neues Krankenhaus sammelte. Das sei ein Zeichen der Dankbarkeit des britischen Volkes an die Verteidiger von Stalingrad, so der Spendenaufruf in der „Times“. Die Stalingrader hätten einen „gewaltigen Beitrag zum Erreichen des endgültigen Sieges der alliierten Nationen“ geleistet.

Solche Aufrufe stießen auf eine breite Resonanz bei Organisationen und Privatpersonen. Mit den Spenden wurde 1944 ein Teil des Krankenhauses für Kriegsversehrte ausgerüstet. Später wurde die Ausrüstung an das Wolgograder Gebietsklinikum Nr. 1 übergeben. 1968 fand man auf ihrem Gelände eine hölzerne Gedenktafel mit dem Wappen der walisischen Stadt Neath und drei Bronzeplaketten. Der Text in dreifacher Ausfertigung auf Englisch, Russisch und in einer uralten keltischen Sprache lautet: „Diese Einrichtung wurde aus Mitteln ausgerüstet, die die Einwohner der Stadt und des Kreises Neath, Westwales, Großbritannien, gespendet haben. Gelobt sei Gott, gepriesen seien die stählernen Herzen der Verteidiger von Stalingrad. Die Erinnerung an ihren Heldenmut ist unsterblich. 1944.“

Churchills Frau der „einzige Lichtblick“

Später brachte Clementine Churchill medizinisches Gerät für das Gesundheitswesen nach Stalingrad, darunter auch chirurgische Instrumente. Als sie im April 1945 in Stalingrad weilte, waren die Beziehungen zwischen der Sowjetunion und England angespannt. Winston Churchill schrieb seiner Frau damals: „Im Moment bist du der einzige Lichtblick im englisch-russischen Verhältnis.“

Am 13. April 1945 berichtete sie ihm von unterwegs: „Überall werde ich von Menschenmengen freundlich empfangen … Wir haben dieses riesige Land von Nord nach Süd durchquert. Und du sollst wissen, dass dieses überwältigende warme Gefühl allgegenwärtig ist.“ Am selben Tag erfuhr die Welt von der Befreiung des KZ Buchenwald durch amerikanische Einheiten.

Einladung ins Mutterland des Fußballs

Das Fußballspiel in Stalingrad war auch ein wichtiger Meilenstein in der fußballerischen Kooperation zwischen der Sowjetunion und Großbritannien. Als Erstes reagierten die Spieler von Arsenal London. Sie schickten ein Glückwunschschreiben und drückten ihre Hochachtung für die Stalingrader aus. Damals entstand auch die Idee, Spiele gegen eine sowjetische Mannschaft auf der Insel zu organisieren. Eine entsprechende Einladung erging an Dynamo. Und es war nicht Dynamo Moskau, das letztlich im Herbst 1945 vier Spiele im Mutterland des Fußballs bestritt (zwei Siege, zwei Unentschieden) und eine riesige Resonanz auslöste, sondern Dynamo Stalingrad.

Wie die russische Historikerin Irina Bystrowa schreibt, war es vor allem der unvergleichlichen persönlichen Autorität von Clementine Churchill geschuldet, dass ihre Stiftung ungeachtet des beginnenden Kalten Krieges bis 1951 mehr als acht Millionen Pfund an Spenden für die Sowjetunion gewinnen konnte. Heute entspräche das etwa 200 Millionen Pfund. Als ein sowjetischer Vertreter sie einmal bat, den Spendern seinen Dank auszurichten, antwortete Churchill: „Wir haben die Leute ersucht, einen Penny pro Woche in unsere Spendentopf einzuzahlen. Ich werde sieben Millionen Menschen danken müssen.“

Bei der WM 2018: England in Wolgograd

75 Jahre nach dem legendären Spiel wird die englische Fußball-Nationalmannschaft bei der Fußball-WM 2018 in Wolgograd spielen. Ihr Trainer Gareth Southgate sagte aus diesem Anlass: „Wir kennen die Geschichte von Wolgograd, wissen um die Bedeutung der Schlacht von Stalingrad und pflegen das Andenken an die Helden. Für uns ist das eine Erinnerung daran, dass es wichtigere Dinge als Fußball gibt.“

Noch einmal drei Jahre später sollte Southgate bei einer Meinungsumfrage während der Fußball-EM 2021 (als England bis ins Finale kam) ein Positivrating von 72 Prozent bei den Briten erreichen. Zum Vergleich: Winston Churchill brachte es nur auf 65 Prozent. Fußball ist in Russland und in England eben mehr als nur ein Spiel.

Ilja Altman ist Historiker und Co-Vorsitzender des Moskauer Holocaust-Zentrums. Bei der vorliegenden Veröffentlichung handelt es sich um ins Deutsche übersetzte Auszüge aus einem Kapitel seines Buches „Krieg. Fußball. Holocaust.“, das demnächst erscheint. Der Abdruck erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Autors.

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