Blockbuster im Museum: Erlebnisarchitektur als Trend

Die Auswahl an Ausstellungen in Moskau ist groß. Um viel Publikum anzulocken, reicht nun ein starkes Thema nicht aus. Auch die Ausstellungsarchitektur spielt eine entscheidende Rolle. Und nahezu jede heutige Ausstellung macht auch gestalterisch auf sich aufmerksam. Die MDZ hat über die neuesten Trends mit Fachleuten gesprochen.

Die Ausstellung „Wiktor Zoi. Der Weg des Helden“ fand in der Moskauer Manege am Kreml 2022 statt. (Foto: Planet9)

Der Weg des Helden

Timur Bulgakow, Kurator für Ausstellungsprojekte im Museum für Gulaggeschichte, Drehbuchautor

Wir sind Zeugen eines kulturellen Paradigmenwechsels. Es gab Zeiten, in denen jeder an großen Prozessen interessiert war und der Mensch eher als Werkzeug zur Erreichung von Zielen gesehen wurde. Jetzt erkennt man den Wert jedes Menschen, seine innere Welt und die Wahrnehmung dieser Welt durch seine eigenen Gefühle und Erfahrungen. Die Dramaturgie unterstützt dies. Der Besucher der Ausstellung wird selbst zum Helden der Ausstellung. Er lässt sich auf die Geschichte ein. Dieser Trend zur Immersivität hält seit 10 Jahren an.

Ich möchte Ihnen ein Beispiel geben. Eine Person kommt in das Gulag-Museum. Am Anfang der Ausstellung sieht er viele Türen. Jede hat ihre eigene Geschichte. Und hinter den Türen befindet sich ein Labyrinth. Der Besucher versucht, aus diesem Labyrinth herauszukommen, indem er einen Saal nach dem anderen durchquert und die Geschichte des Staatsterrors in der UdSSR studiert und begreift. Mit anderen Worten: Der Besucher wird selbst zum Helden dieser Geschichte. Der Raum hilft, viele konzeptuelle Dinge effektiv zu erklären.

Im Moskauer Museum für Gulag-Geschichte (Foto: Museum für Gulag-Geschichte)

Diese Trends in der Museumsarbeit sind weltweit zu beobachten. Und sie werden auch in Russland verfolgt. Jetzt boomt das Museumsgeschäft in unserem Land. Ich kann das an den Menschen in unserem Umfeld sehen. Sie schaffen, sie brennen und sie sind nicht verschlossen in ihrem Brennen. Museumsmitarbeiter aus verschiedenen Regionen schauen sich um, lesen Trends ab und nutzen aktiv neue Ansätze und Lösungen in ihren eigenen Museen.

Agnija Sterligowa, Architektin, CEO Büro „Planet9“

In Russland begann sich der Markt für Dienstleistungen im Zusammenhang mit der Erlebnisarchitektur im Jahr 2015 zu entwickeln. Zumindest gibt es so eine Meinung. Im selben Jahr eröffneten wir durch einen glücklichen Zufall unser Büro Planet9. Wir haben uns auf die Arbeit mit Projekten im kulturellen Bereich spezialisiert – wir konzipieren und produzieren Ausstellungen, gestalten Museen und Ausstellungen. Erlebnisarchitektur ist unsere Arbeitsmethode. Das Portfolio von Planet9 umfasst mehr als 130 Projekte in Russland und im Ausland, darunter die Ausstellungen „Wiktor Zoi. Der Weg des Helden“ in Moskau, „Erste Position. Russisches Ballett“ in St. Petersburg, „Albrecht Dürer“ im Historischen Museum in Moskau, „Raphael‘s Linie. 1520–2020“ in der Staatlichen Eremitage in St. Petersburg.

Nicht ganz neu

Dieses Thema gab es aber auch vorher. Es gab erstaunliche Künstler, die mit den Ausstellungen arbeiteten. Zum Beispiel der große Architekt Jewgeni Rosenblum und das Seneshskaja Studio, das 1964 unter seiner Leitung entstand. Was soll ich sagen – Sergej Djagilew organisierte bereits 1905 eine Ausstellung russischer Porträts im Taurischen Palais in St. Petersburg. Und bei dieser Ausstellung wurde der Szenografie besondere Aufmerksamkeit geschenkt. Kunstwerke mithilfe von Szenografie zu zeigen, ist also nichts Neues.

Der Begriff „Blockbuster-Ausstellung“, der auf viele aktuelle Ausstellungen, auch auf die unseres Büros, angewandt wird, ist auch nicht neu. Kürzlich las ich ein vom Garage-Museum veröffentlichtes Buch über Thomas Hoving, den Direktor des Metropolitan Museum of Art in den Jahren 1967–1977. Er hat schon damals „Blockbuster-Ausstellungen“ gemacht und den Begriff verwendet.

Die Ausstellung „David Bowie Is“, die dem Leben und Werk von David Bowie gewidmet ist, ist ein gutes Beispiel für solche Ausstellungen. Sie wurde vom Victoria and Albert Museum in London 2013 organisiert und hat die ganze Welt bereist. Die Szenografie dieser Ausstellung, die Erzählung, erregte viel Aufmerksamkeit. Hier wurde der Interaktion mit den Exponaten mehr Freiheit eingeräumt als in klassischen Kunstausstellungen, bei denen das Kunstwerk im Vordergrund steht.

„Wiktor Zoi. Der Weg des Helden“ (Foto: Planet9)

Lebendige Eindrücke

Wir verfolgen globale Trends. Bei der Gestaltung der Ausstellung „Wiktor Zoi“ haben wir uns von der Bowie-Ausstellung inspirieren lassen, zumal die Bedeutung von Zois Figur für unsere Kultur durchaus mit der des britischen Rockmusikers vergleichbar ist. Das ist Zeitgeschichte. Sie ist noch nicht museal aufgearbeitet worden. Wir stellen die Geschichte des Musikers in einen bestimmten Kontext. Das trägt zum emotionalen Eintauchen eines Menschen bei, der beim Besuch einer Ausstellung die gleichen lebendigen Eindrücke gewinnt wie bei einem Theater-, Kino- oder Konzertbesuch.

In den letzten Jahren haben immer mehr Menschen in Russland begonnen, Ausstellungen zu besuchen, weil sie darin ein Element der emotionalen Vertiefung sehen. Aber man muss verstehen: Die Betrachter geben sich nicht mehr mit weißen Wänden zufrieden, an denen Gemälde hängen. Obwohl das hat auch seine Daseinsberechtigung. Es gibt jetzt eine Nachfrage nach einer qualitativ hochwertigen Vermittlung zwischen Geschichte, Inhalt und dem Besucher.

Der Erfolg einer Ausstellung wird nicht immer an der Zahl der Besucher gemessen. Es gibt Ausstellungen, die sich an ein Fachpublikum richten. Aber sie sind aus wissenschaftlicher Sicht wertvoll und bringen einige Themen stark voran. Und es gibt Ausstellungen, die von vielen Menschen besucht werden, die man aber kaum als Kulturausstellungen bezeichnen kann. Ich will jetzt keine Beispiele nennen. Wissen Sie, in den 1990er Jahren wurden in der WDNCh Pelzmantelausstellungen organisiert.

Erfolg ist für mich die Wertschätzung des Projekts durch die Fachwelt. Natürlich ist es auch meine eigene Zufriedenheit mit dem Projekt. Einer der Gradmesser für den Erfolg ist die Viralität. Die Leute posten schöne Bilder von der Ausstellung in den sozialen Netzwerken, andere sehen sie und wollen die Ausstellung auch besuchen.

Russlandweiter Trend

Viele russische Museen führen derzeit Projekte mit starker Szenografie durch. Das Staatliche Eremitage-Museum, die Tretjakow-Galerie und das Puschkin-Museum stehen dabei an vorderster Front. Interessante Projekte werden in Nischni Nowgorod, Jekaterinburg, Wladiwostok, Samara (wo Fabrik-Küche, eine Zweigstelle der Tretjakow-Galerie, eröffnet wurde), Kasan, Kaliningrad und dieses Jahr in Susdal organisiert. Ich habe den Eindruck, dass man sehr stark zu den westlichen Kollegen aufschließt. Auch Asien befindet sich in einer Phase des Wachstums, ebenso wie Russland. Ich würde sagen, dass viele Museen in ganz Russland über genügend Mittel verfügen, um interessante kulturelle Projekte durchzuführen. Immerhin wird Geld bereitgestellt und zwar sehr viel Geld. Es gibt nicht einmal genügend Fachleute, um dieses Neuland zu erschließen. Es gibt keine Universitäten, die Architekten für Ausstellungsräume ausbilden würden.

Wie im Kino

Alexander Karmaew, geschäftsführender Gesellschafter des Büros Planet9, Produzent

Unsere Branche kann mit dem Kino verglichen werden. Es ist kein Zufall, dass der Begriff „Blockbuster-Ausstellung“ aus dem Kino stammt. Alles ist ähnlich. Es gibt Produzenten, Sponsoren, unsere eigenen Regisseure und doe Regisseure, die hinzugezogen werden, weil sie ein bestimmtes Thema verstehen. Es gibt Leute, die sich mit bestimmten gesellschaftlichen Phänomenen auskennen, die sagen können, was jetzt interessant ist und was nicht. Für jedes Projekt wird ein Team gebildet. Und das kann international sein.

Die kulturelle Sphäre existiert nicht abgekapselt in einem Staat. Auch in diesen Zeiten. Jetzt kommunizieren wir über Ihre Zeitung mit dem deutschsprachigen Publikum. Das zeigt, dass es ein gegenseitiges Interesse im kulturellen Bereich gibt. Wir möchten für verschiedene Zielgruppen arbeiten, nicht nur für die russische, und mit den Kulturen der verschiedenen Länder. Jetzt gibt es natürlich einen umgekehrten Trend aufgrund der Geschehnisse in der Welt. Aber der Dialog der Kulturen, der Austausch von Erfahrungen sind wichtig. 

Aufgeschrieben von Olga ­Silantjewa

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