Seit den gefälschten Präsidentschaftswahlen in Belarus tauchen die Proteste gegen Alexander Lukaschenko ganze Straßenzüge der Hauptstadt Minsk in Weiß- Rot-Weiß. Nicht weniger als das Rot-Grün der offiziellen Flagge, erheben die Demonstranten mit ihren Farben einen Anspruch auf die belarussische Identität. Anders als die offizielle Version kann sich die weiß-rot-weiße Flagge allerdings auf eine Geschichte berufen, die – je nach Erzählweise – bis zu 610 Jahre alt ist. Die Ursprünge der Farben sollen im Großfürstentum Litauen liegen, dem das heutige Belarus bis zum Ende des 18. Jahrhunderts angehörte. Dessen Wappen zierte, so wie auch heute die Banner der Demonstranten, ein weißer Reiter auf rotem Grund, im Belarussischen „Pahonja“ genannt.
Lange Zeit rangen die Belarussen um ihr Selbstverständnis, das sich zwischen den stolzen Polen und Russen nur schwer behaupten ließ. Beide Seiten betrachteten das ärmliche Nachbarvolk und dessen Sprache als Teil der jeweils eigenen Kultur, allein durch den Einfluss des anderen verdorben. Schließlich fiel das Gebiet ans russische Zarenreich, in dem sich Ende des 19. Jahrhunderts allmählich die belarussische Nationalbewegung formierte. Während der Februarrevolution im Jahre 1917 trugen belarussische Soldaten der zaristischen Armee zunehmend weiß-rot-weiße Bänder an ihren Uniformen. Nach Abdankung des letzten Zaren entwarf der Architekt und Sozialist Klaudsij Dusch-Duschewski jene weiße Fahne mit einem waagerechten roten Streifen in ihrer Mitte, die bei den heutigen Protesten Verwendung findet.
Mit Weiß-Rot-Weiß in die belarussische Unabhängigkeit
Rund ein Jahr nach der Februarrevolution, am 25. März 1918, wurde der erste unabhängige, belarussische Staat, die Volksrepublik Belarus, ausgerufen. Das junge Land erhob den Entwurf Dusch-Duschewskis, selbst einer der Mitbegründer der Volksrepublik, zur offiziellen Nationalflagge sowie das „Pahonja“ zum Wappen. In einer Erklärung verwies man unter anderem auf die in der belarussischen Volkskunst allgegenwärtigen weißen und roten Ornamente. Doch die Fahne wehte nur kurz: Bereits nach wenigen Monaten ging der junge Staat zugrunde, bevor 1919 die Zeit der belarussischen Sowjetrepublik anbrach.
Während des Zweiten Weltkriegs marschierten deutsche Truppen in die sowjetische Teilrepublik ein. Im neu gegründeten Kommissariat Weißruthenien hissten Nazi-Kollaborateure erneut die von den Besatzern geduldete weiß-rot-weiße Fahne. Ein bestimmter Teil der belarussischen Intelligenzija hatte sich gegen die Sowjetunion in Stellung gebracht und strebte zu jener Zeit einen Staat unter deutschem Protektorat an. Heute wie auch schon in den vergangenen Jahren nutzen Lukaschenko und seine Anhänger diesen Umstand, um die Anhänger der Opposition zu diskreditieren. Dass die belarussischen Kollaborateure jedoch nicht mit der generellen Unabhängigkeitsbewegung gleichzusetzen sind, zeigt schon allein das Schicksal des Mannes, der die Flagge ursprünglich entwickelt hatte.
Lukaschenko belebt die sowjetische Fahne wieder
Dusch-Duschewski verweigerte den Nationalsozialisten seine Unterstützung und landete dafür in einem Konzentrationslager in Litauen. In der UdSSR trat erstmals das später unter Lukaschenko wiederbelebte Rot-Grün in Erscheinung, mit dem der frischgebackene Präsident 1995 an die alten Sowjetzeiten zumindest oberflächlich anknüpfen sollte. Bei einem von Lukaschenko initiierten Referendum stimmten 78 Prozent der Wähler für eine Übernahme der heutigen rot-grünen Nationalfahne, die ihrer sowjetischen Vorgängerin bis auf die fehlenden Hammer und Sichel beinahe exakt gleicht. Nach dem Ende der UdSSR war der wirtschaftliche Standard des Landes unmittelbar eingebrochen, was viele Menschen in Richtung der vermeintlich glorreicheren Vergangenheit blicken ließ.
Dabei hatten viele Belarussen unter der Sowjetunion, insbesondere unter Josef Stalin, gelitten. Auf eine Politik, die zu Beginn der UdSSR noch auf die Förderung der belarussischen Kultur und Sprache (sowie auch derjenigen anderer Volksgruppen) setzte, folgte mit Stalin eine Zeit der radikalen Russifizierung. Zudem ließ der Diktator führende Köpfe der belarussischen Intelligenzija, unter ihnen natürlich auch Anhänger der Unabhängigkeitsbewegung, ermorden.
Weiß-Rot-Weiß als die Farben der Opposition
Ein weiteres Unheil, das während der Sowjetunion über die Belarussen hereinbrach, war das Reaktorunglück von Tschernobyl. Die Gebiete der Teilrepublik waren so stark von der Atomkatastrophe betroffen, dass der Schutz des belarussischen Volkes als einer der entscheidenden Gründe für den zweiten Versuch einer staatlichen Souveränität angeführt wurde. Im Jahre 1991 wurde schließlich die heutige Republik Belarus ausgerufen. Bis zu Lukaschenkos Referendum führte der neue Staat die weiß-rot-weiße Fahne als offizielles Nationalsymbol. Unter der bereits 26 Jahre andauernden Herrschaft des autoritären Präsidenten ist die Gründungsflagge zum Tabu geworden.
Wer die Fahne öffentlich zur Schau stellte, musste zudem mit Ärger durch die Behörden rechnen. Noch wenige Tage vor der Wahl war die Fahne einer Minskerin ohne rechtliche Grundlage beschlagnahmt worden, nachdem sie diese an ihren Balkon gehängt hatte. Es sind Vorfälle wie diese, die viele Belarussen nicht mehr gewillt sind zu dulden. Mit seinem strikten Vorgehen gegen ein Symbol, das in den Wurzeln der belarussischen Nation verankert ist, scheint Lukaschenko das Gegenteil von dem bewirkt zu haben, was er eigentlich wollte. Die Belarussen haben ihre alte weiß-rot-weiße Fahne für sich wiederentdeckt: weniger aus Sympathie zur Opposition als aus Abneigung gegen den Machthaber und sein Regime.
Patrick Volknant