Der Saal liegt im Dunkeln, das spartanische Bühnenbild ist nur schwach beleuchtet. Was dort aufgebaut ist, gibt Anlass zum Rätseln: Treppen führen hinauf zu weißen Türen, die scheinbar nur ins Nichts führen. Dann ertönt die Stimme des Ansagers. Bitte nicht fotografieren und auf gar keinen Fall mit Blitzlicht, instruiert sie das Publikum. Das könne für die Darsteller lebensgefährlich enden.
Tanz, Theater, Akrobatik
Damit ist alles bereit für einen gleichermaßen ungewöhnlichen wie beeindruckenden Abend im Moskauer Musical-Theater. Auf dem Programm steht das Stück „Revers“, das es sich auf die Fahne geschrieben hat, Genregrenzen zu überwinden und vor allem die Münder der Besucher offenstehen zu lassen. Das gelingt den Regisseuren Andrej Koltsow und Irina Droschschina mit ihrer Mischung aus Theaterstück, Tanzvorstellung und Akrobatik auch exzellent. Und das, obwohl das ganze Stück über kein einziges Wort gesprochen wird.
Zu Beginn steht eine Szene, die wohl den Meisten im Saal so schon einmal selbst widerfahren ist. Aus einer der Türen tritt eine zierliche junge Frau und blickt kurz Richtung Publikum. Die Tür fällt hinter ihr zu, über die Lautsprecher ertönt ein metallisches Klicken. Die plötzlich weit aufgerissenen Augen der Dame machen sofort klar, dass sie mit Sicherheit keinen Schlüssel in der Tasche hat. Wie ihr ergeht es auch den anderen Figuren, die in schneller Abfolge auf der Bühne erscheinen. So finden sich schließlich sechs Männer und sechs Frauen gemeinsam in einem Raum, aus dem es augenscheinlich keinen Ausweg gibt. Panik setzt ein, die Darsteller prügeln im Takt der zunehmend hektischen Musik regelrecht gegen die Türen. Bis sie schließlich resignieren.
Menschlichkeit in der Gefangenschaft
Von hier aus entspinnt sich das Stück, dessen Handlung sich vor allem aus zwei grundlegenden Problematiken ergibt. Zum einen ist da der ständig wiederkehrende Versuch der Charaktere, doch irgendwie einen Ausweg aus ihrer Gefangenschaft zu finden. Und zum anderen die nicht minder dringende Frage, wie sich die zwangsläufig heiklen Dynamiken lösen lassen, die entstehen, wenn zwölf Menschen gegen den eigenen Willen auf engem Raum eingepfercht sind.
Die Konflikte, Momente der Zärtlichkeit und Szenen der Verzweiflung, die in diesem Setting entstehen, inszeniert „Revers“ in vor allem akrobatisch meisterlicher Art. Die Darsteller vollführen permanent atemberaubende Kunststücke. Sie turnen unmöglich wirkende Figuren an einer Strickleiter oder an Metallstangen, zeigen im Ensemble Tänze mit komplizierten Hebefiguren und Würfen quer über die Bühne, oder mimen auf einem Trampolin Kampfszenen, bei denen man mit dem Zählen der Saltos kaum hinterherkommt. Was sie ihren Körpern dabei abverlangen, ist gleichermaßen beeindruckend wie furchterregend. Unweigerlich zuckt man immer wieder in seinem Stuhl zusammen, könnte jeder falsche Schritt doch fatale Folgen haben.
Publikumserfolg seit drei Jahren
Das riskante Spektakel geht aber bereits eine ganze Weile gut: Seit Februar 2018 ist „Revers“ nun schon fester Bestandteil des Programms im Moskauer Musical-Theater (die MDZ berichtete zur Premiere). Beim Besuch ist auch sofort klar warum. Dreieinhalb Jahre nach Uraufführung sind die Vorstellungen noch immer voll ausgelastet, das Publikum gibt weiter Standing Ovations.
Daran wird sich so schnell auch nichts ändern. „Wir haben keine Absicht, bald damit aufzuhören“, erklärt Irina Droschschowa der MDZ vor Beginn. „Revers“ ist weiterhin zweimal die Woche, freitags um 23 Uhr und sonntags um 19 Uhr, zu sehen. Von 2. bis 8. Dezember wird das Stück fünfmal binnen einer Woche aufgeführt werden. Besser lässt sich kaum ins neue Jahr starten.
Das Moskauer Musical-Theater finden Sie direkt an der Metrostation Twerskaja. Tickets gibt es unter www.teamuz.ru/revers/ ab 1000 Rubel (etwa 12 Euro).
Thomas Fritz Maier