Moskau-Wolga-Kanal: mit dem Schiff über Leichen

Seit 80 Jahren verbindet der Moskau-Wolga-Kanal die Hauptstadt mit dem längsten Fluss Europas. Gebaut wurde er von hunderttausenden Zwangsarbeitern. Auf ihren sterblichen Überresten stehen heute Wohnanlagen.

Kanal

Der Moskau-Wolga-Kanal früher und heute: Collage von Jelisaweta Sawolajnen für die Ausstellung von Memorial International

Am Moskau-Wolga-Kanal taucht die Abendsonne das Ufer in warmes Licht. Wohntürme für Wohlhabende, grüne Böschungen und kleine Datschen säumen den Kanal am nordwestlichen Rand der Hauptstadt. Wie viele tote Kanalerbauer darunter begraben sind, kann man nicht mehr genau sagen. Etwa 22 000 Häftlinge sind Schätzungen zufolge beim Bau des 128 Kilometer langen Wasserwegs und in den Lagern entlang der Strecke ums Leben gekommen.

Die Erinnerung an diese Opfer sei noch immer ein schwieriges Thema, sagt Irina Galkowa, Museumsdirektorin bei „Memorial International“. Die Menschenrechtsorganisation hat in den vergangenen Wochen dreimal zur Schifffahrt auf dem Kanal eingeladen. Außerdem hat sie mit der Forscherin und Künstlerin Jelisaweta Sawolajnen eine Fotoausstellung vorbereitet. Anlass ist die Eröffnung des Kanals für den Schiffsverkehr vor 80 Jahren, im Sommer 1937.

Massengräber entlang der Strecke

Pläne für eine solche Wasserstraße gab es bereits unter Peter dem Großen. Den Beschluss für das heutige Bauwerk fasste das Zentralkomitee der Kommunistischen Partei im Juni 1931. Im folgenden Jahr wurde die Kanalbauverwaltung gegründet. Ihre Arbeitskräfte waren die Häftlinge des damals größten Lagers „Dmitlag“. Benannt war es nach der Stadt Dmitrow zwischen Moskau und der Wolga. In den Jahren 1935 und 1936, der Hochphase des Kanalbaus, waren dort und in den Außenstellen fast 200 000 Menschen interniert, die am Kanal und den acht Schleusen arbeiteten.

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Unmenschliche Bedingungen: Arbeiter beim Bau des Kanals /Quelle: Memorial International

Kanal

Alle Spuren im Fluss ertrunken: der Kanal heute /Foto: Tino Künzel

Schaufeln, graben und hämmern mussten sie selbst bei Temperaturen weit unter dem Gefrierpunkt. Ohne Mittagessen, und im Scheinwerferlicht auch nachts. Viele überlebten die harten Bedingungen und die schlechte Versorgung nicht. Andere kamen bei Arbeitsunfällen um. So entstanden Massengräber in den Wiesen und Wäldern entlang der Strecke. Dort, wo heute neue Wohnanlagen geplant oder schon gebaut werden.

Keine systematische Erinnerung

Wer sich an den Ufern umsieht, entdeckt aber auch hin und wieder Spuren der Erinnerung. Allerdings sind sie oft kaum als solche zu erkennen. So steht zum Beispiel ein Holzkreuz inmitten eines Steinhaufens in einem kleinen Ort nördlich von Dmitrow. Dass es an die Kanalarbeiter erinnert, wissen nur Eingeweihte. „Seit Ende der Neunzigerjahre gibt es immer wieder private Initiativen an einzelnen Stellen“, erklärt Galkowa. Solche kleinen Denkmäler stammen oft von Verwandten der Häftlinge. „Dann gibt es aber keine Erklärung, keine Inschrift. Man kann nicht nachvollziehen, woran erinnert wird.“ Galkowa vermisst eine „systematische“ offizielle Erinnerung, die auch die Ausmaße des Projekts und seiner Opfer deutlich machen würde.

Dass das Gedenken an die Erbauer so schwerfällt, liegt laut Galkowa am tragischen Ende der Arbeiten. Es fiel nämlich in die Zeit des Großen Terrors. Damals wurde fast die gesamte Leitung des Kanalprojekts und des Lagers sowie ein großer Teil der Häftlinge erschossen. Sie galten als „Feinde der Sowjetunion“.

Corinna Anton und Beatrice Braunschweig

 


Eine „Topographie des Terrors“ für Moskau

Was hat sich in den 30ern vor der eigenen Haustür ereignet? „Memorial International“ möchte die Moskauer für die dunklen Seiten der Geschichte ihrer Stadt sensibilisieren und dafür eine „Topographie des Terrors“ schaffen. Sie soll über Orte des stalinistischen Terrors informieren. Der Workshop mit den Kinderbriefen war Teil des Projekts, ebenso die Bootsfahrt und Fotoausstellung mit historischen und aktuellen Bildern vom Moskau-Wolga-Kanal. Letztere läuft bis 19. Oktober im Museum von „Memorial International“ (Karetnij rjad 5/10, Metro Puschkinskaja). Die Kinderbriefe sind dort dauerhaft ausgestellt.

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