Post in den Gulag: „Lebt Papa noch?“

Sie konnten kaum schreiben und erlebten schon das Schlimmste, was ein Kind sich vorstellen kann. Nach der Verhaftung ihrer Eltern schickten viele Mädchen und Jungen in den Dreißigerjahren Briefe in den Gulag. Die Organisation „Memorial International“ hat einige aufbewahrt und nun mit Kindern analysiert.

Kinderbriefe

Henrietta erzählt ihrer Mutter in diesem Brief, dass sie eine Freundin besucht und sich selbst die Haare geschnitten hat. /Quelle: Memorial International

Gulag und Terror beschäftigen Kinder im Gorki-Park normalerweise nicht. Sie fahren mit dem Roller, spielen auf der Wiese oder essen Eis. Nicht so eine kleine Gruppe, die sich in der Nähe des Haupteingangs. Sie hat sich um den Historiker Sergej Bondarenko versammelt, um in Briefen aus den Dreißigerjahren zu lesen.

„Hallo, liebe Mami! Warum schreibst du mir keine Briefe? Mami, weißt du nicht, wo Papa ist? Mami, ich vermisse dich so.“ Solche Zeilen kann man in vielen Briefen finden, die Kinder in die Straflager schickten. Im Archiv der Menschenrechtsorganisation „Memorial International“ sind Hunderte davon erhalten.

Besondere Zeitdokumente

Mit ihren Rechtschreib- und Grammatikfehlern, ihren Zeichnungen und der mal schön geschwungenen, mal noch unsicheren Kinderschrift erzählen diese Dokumente vom Leben in den Dreißigerjahren. Und sie können auch Kindern von heute begreiflich machen, was damals geschehen ist. Deshalb hat „Memorial International“ junge Zuhörer zu einem Workshop in den Gorki-Park eingeladen.

„Wir haben nicht so viele Möglichkeiten, etwas darüber zu erfahren, was vor 80 Jahren hier vor sich gegangen ist“, erklärt Bondarenko. „Das war eine seltsame Zeit, in der offizielle Quellen nicht über alles informierten. In den Zeitungen wurde vor allem über die Ernte oder über neue Bauwerke geschrieben.“ Man könne in Archiven nachforschen, sagt der Historiker. Aber dazu müsse man vorher schon genau wissen, wonach man sucht. Die Kinderbriefe dagegen sind ein eindrucksvolles Zeugnis. Zu „Memorial International“ gelangten sie, „weil Menschen sie brachten und uns baten, sie aufzubewahren“, so Bondarenko.

Kinderbrief

An Mama im Gulag: schwarze Spuren der Zensur in einem bunten Kinderbrief. /Quelle: Memorial International

Der Historiker hat an diesem Tag eine schwierige Aufgabe. Er erzählt Jungen und Mädchen, von denen die Jüngsten gerade einmal zehn Jahre alt sind, eine komplizierte Geschichte. Sie beginnt im Jahr 1937. Damals gab das Innenministerium (NKWD), dem die Hauptverwaltung der Lager (Gulag) unterstand, eine Anordnung heraus. Sie legte fest, wie mit Familienmitgliedern von angeblichen „Volksfeinden“ umzugehen ist. Vorgesehen war, deren Frauen und sogar Ex-Frauen unmittelbar zu verhaften. Für jede Familie eines „Volksfeindes“ wurde eine detaillierte Kartei angelegt, in der alle Verwandten verzeichnet waren: Frauen, Kinder, Eltern.

Waren die Söhne oder Töchter älter als 15 Jahre, fielen sie in eine eigene Kategorie. Sie galten als „besonders gefährlich“, weil die Behörden glaubten, dass diese Kinder in der Lage seien, selbst Verbrechen gegen ihr Heimatland zu begehen. Wenn Familienmitglieder verhaftet wurden, kam es gleichzeitig auch zu Hausdurchsuchungen. Anwesen wurden beschlagnahmt und Wohnungen versiegelt.

Keine Angst vor schrecklichen Geschichten

Um das Ausmaß der Verhaftungen deutlich zu machen, greift Bondarenko auf Statistiken zurück: Allein in Moskau wurden in den Jahren 1937 und 1938 etwa 40 000 Menschen verhaftet und erschossen, mehr als 100 000 wurden verhaftet und in Lager geschickt. Ihre Kinder brachten die Behörden in Waisenhäusern unter oder sie schickten sie zu Verwandten. Säuglinge kamen zusammen mit ihren Müttern in die Gefangenenlager.

Was die größeren Kinder ihren Eltern in dieser Zeit schrieben, analysiert Bondarenko nun zusammen mit den Kindern von heute. Gemeinsam sehen sie sich die Zeichnungen und die Stempel der Zensoren an. Sie versuchen zu verstehen, was mit den Eltern passiert sein könnte. Angst vor den schrecklichen Geschichten haben die Kinder dabei nicht. Sie sind eher neugierig. Deshalb wollen sie herausfinden, warum die Kinder von damals nicht mit ihren Eltern zusammen sein konnten. Arbeitet die Mutter vielleicht in einer weit entfernten Stadt? Ist der Vater auf Dienstreise? Solche Fragen stellen sich die jungen Zuhörer, wenn sie die Zeitdokumente lesen.

Briefe nach Karaganda

Mehrere Briefe im Archiv von „Memorial International“ stammen von Henrietta Ioelson-Grodsjanskaja. Sie schrieb ihrer Mutter ins Arbeitslager in Karaganda (Qaraghandy, heute Kasachstan). Ihr Vater war Mitglied der Kommunistischen Partei und Direktor des Allrussischen Forschungsinstituts für Kältetechnik in Moskau. Im Dezember 1937 wurde er wegen angeblicher Spionage verhaftet und zwei Monate später erschossen.

Moskau-Wolga-Kanal: mit dem Schiff über Leichen

Drei Tage, nachdem das Urteil über ihren Mann gefällt worden war, verurteilten die Richter die Ehefrau als Angehörige eines Landesverräters zu acht Jahren Gefängnis. Sie schickten sie zuerst in ein Lager in Mordwinien. Dann kam sie nach Karelien und schließlich nach Karaganda. Währenddessen wurde die Tochter zuhause langsam erwachsen.

Unerwartete Fragen

Davon zeugen auch die Briefe. So erzählt Henrietta im ersten Brief nach der Verhaftung der Mutter noch davon, dass sie in der Schule fleißig lerne. Oder dass sie als Redakteurin für die Schülerzeitung arbeite und sich selbst die Haare geschnitten habe. Am Ende des Briefes kommen für den Leser von heute unerwartete Fragen: „Was glaubst du, Mama, ist Papa noch am Leben oder nicht?“ Einen anderen Brief schrieb Henrietta zwei Jahre später, nun mit anderen Fragen: Sie will von der Mutter wissen, ob sie in den „Komsomol“ eintreten soll oder nicht.

Aus der gegenwärtigen Perspektive wirkt diese Frage absurd. Wie kann ein Kind, dass die Verhaftung der eigenen Eltern miterlebt hat, überhaupt auf die Idee kommen, Mitglied der kommunistischen Jugendorganisation zu werden? Henriettas und andere Briefe zeigen, dass manche Fragen eben nicht so einfach sind, wie sie uns heute erscheinen.

Ljubawa Winokurowa


Eine „Topographie des Terrors“ für Moskau

Was hat sich in den 30ern vor der eigenen Haustür ereignet? „Memorial International“ möchte die Moskauer für die dunklen Seiten der Geschichte ihrer Stadt sensibilisieren und dafür eine „Topographie des Terrors“ schaffen. Sie soll über Orte des stalinistischen Terrors informieren. Der Workshop mit den Kinderbriefen war Teil des Projekts, ebenso die Bootsfahrt und Fotoausstellung mit historischen und aktuellen Bildern vom Moskau-Wolga-Kanal. Letztere läuft bis 19. Oktober im Museum von „Memorial International“ (Karetnij rjad 5/10, Metro Puschkinskaja). Die Kinderbriefe sind dort dauerhaft ausgestellt.

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