
Am 6. Juni 2014, dem 215. Geburtstag von Alexander Puschkin, begann das Themenjahr der deutschen Sprache und Literatur in Russland und das Jahr der russischen Sprache und Literatur in Deutschland. Das Jahr endete mit dem 140. Geburtstag des Autors der „Buddenbrooks“. Die Veranstaltung fand am 6. Juni 2015 in Moskau statt. Zwei Ausstellungen fielen zeitlich mit dem Ereignis zusammen. Das Puschkin-Museum zeigte Fotografien aus dem Schweizer Archiv der Familie Mann, die Stationen aus dem Leben des Schriftstellers abbildeten. Und das Goethe-Institut in Moskau zeigte Fotodokumente aus der Sammlung des Buddenbrookhauses in Lübeck.
Im Jahr 2025
Ein Jahrzehnt später werden die Feierlichkeiten zum 150. Geburtstag des Schriftstellers aus einem „unfreundlichen Staat“ in Russland wesentlich bescheidener begangen. Und am Vorabend des Geburtstages kam es zu einem Skandal. Ein Einwohner von Wolgograd vermutete in dem angekündigten Online-Quiz über Thomas Mann die Propaganda einer in Russland verbotenen Bewegung und „die Bildung eines positiven Bildes der Bundesrepublik Deutschland als Träger wahrer demokratischer Werte“. Dieser unbekannte Wolgograder machte die Behörden darauf aufmerksam. Das Quiz wurde abgesagt.
Dennoch wird der 150. Geburtstag gefeiert. Bibliotheken in einigen russischen Städten veranstalten Buchabende und Ausstellungen. Zum Beispiel in Grosny (Tschetschenien), Nabereschnyje Tschelny (Tatarstan) oder im Dorf Tenguschewo in der Republik Mordwinien, wie aus den Ankündigungen auf Kultura.rf hervorgeht.

Vortrag und Diskussion im Goethe-Institut Moskau
Am Vorabend des Jubiläums organisierte das Goethe-Institut in Moskau ein Treffen unter dem Titel „Reflexionen und Lebensweg eines Nobelpreisträgers“. Deborah Haffner, Leiterin des Kulturreferates der Deutschen Botschaft in Russland, sprach in der Bibliothek zu den Zuhörern. Sie erinnerte daran, wie „der Titan der deutschen, ja der Weltliteratur“ Thomas Mann während des Zweiten Weltkriegs im Radio an seine Landsleute appellierte, mit dem Glauben „an die Vernunft und den Anstand seiner Landsleute“, an „ihren Durst nach dem freien Wort“. Michail Rudnizkij, ein bekannter Publizist und Übersetzer, war zu dem Treffen eingeladen. Er berichtete über die Geschichte der Wahrnehmung Thomas Manns in Russland und sprach über seine Erfahrungen bei der Arbeit an der Übersetzung der Novelle „Der Tod in Venedig“.

Zur Geschichte von Manns Übersetzungen in Russland
Die ersten Übersetzungen Manns ins Russische wurden zu Beginn des 20. Jahrhunderts veröffentlicht. Von 1910 bis 1915 erschien die vollständige Sammlung der Werke des deutschen Schriftstellers in fünf Bänden. In der zweiten Hälfte der 1930er Jahre erschien in Moskau Manns sechsbändiges Werk. Zwei Jahre lang, von 1940 bis 1941, wurde in Russland nicht an den deutschen Antifaschisten gedacht. Erst Ende 1941 erschien eine weitere Veröffentlichung über Thomas Mann in einer Zeitung. Nach dem Zweiten Weltkrieg verschwindet Mann wieder aus der russischen Kultur.
„Er taucht 1955 wieder auf“, erinnert sich Michail Rudnizkij. Er selbst war damals 10 Jahre alt. „Es war ein besonderes Jahr. Das Jahr des Besuchs von Bundeskanzler Konrad Adenauer und der endgültigen Heimkehr der deutschen Kriegsgefangenen. Das Jahr, in dem das historische Spiel zwischen der UdSSR und Deutschland stattfand. Ich habe es gesehen. Es war fast das einzige Mal, dass wir ein Fußballspiel gegen die Deutschen gewonnen haben.“ Mit der Aufnahme der diplomatischen Beziehungen zwischen den beiden Ländern wurden die Werke Thomas Manns weithin zugänglich.
Manns Stimme, vor allem durch sein zehnbändiges Werk 1959–1961, ertönte in besonderer Weise. Und die Veröffentlichung von „Joseph und seine Brüder“, übersetzt von Solomon Apt 1968, war ein „bahnbrechendes Ereignis“ im Land des militanten Atheismus.
Bücher und Theaterstücke
Heute stehen den russischen Lesern verschiedene Übersetzungen von Thomas Manns Werken zur Verfügung. Nach Angaben von Michail Rudnizkij, der sich auf Mitarbeiter des AST-Verlags beruft, ist „Der Zauberberg“ das beliebteste Buch. In den Top 100 der beliebtesten Bücher, so die Bewertung auf der Webseite Livelib.ru, die nach den Ergebnissen der Leserstimmen zusammengestellt wird, findet sich jedoch kein einziges Werk von Thomas Mann (übrigens gibt es dort vier Romane von Remarque). Auch in der jüngsten gesamtrussischen Buchbewertung ist er nicht unter den ersten 50 zu finden. Kein einziges Werk von Thomas Mann wird unter den für die russischen Schüler empfohlenen Büchern genannt (wohl aber Kafka und Remarque).

Russen können Werke von Thomas Mann ansehen. Und es geht nicht nur um Luchino Viscontis Meisterwerk „Tod in Venedig“. Derzeit gibt es in Moskauer Theatern mehrere Aufführungen, die auf den Werken des deutschen Klassikers basieren. Im Repertoire des Stanislawski-Elektrotheaters gibt es seit 2017 die Aufführung „Der Zauberberg“ unter der Regie von Konstantin Bogomolow. Offiziell – „basierend auf dem Roman von Thomas Mann“. Aber ohne jegliche Spuren von Originaltext. Von Mann blieben Husten, angehaltene Zeit und das Thema Sterben. „Der kleine Herr Friedemann“ läuft im MTJUS. Im Kamburowa Theater kann man eine einstündige Mono-Performance „Der Weg von Pipsam“ sehen, die bereits auf verschiedenen Novellen des Schriftstellers basiert. Das Malaja Ordynka Theater zeigt „Der alte neue Faust“, basierend auf Werken von Christopher Marlowe, Johann Wolfgang von Goethe und Thomas Mann.
„Donnerschläge“ unserer Zeit
Thomas Mann ist kein Schriftsteller für die Massen. Seine Romane voller philosophischer Verallgemeinerungen werden gewöhnlich als „intellektuell“ bezeichnet. Sie spiegeln kaum die historische und gesellschaftliche Realität wider. Sie sind zeitlos und unterliegen nicht der Korrosion. Es scheint, Mann schreibe über Katastrophen und „Donnerschläge“ unserer Zeit. Und seine Zeilen aus „Doktor Faustus“ über das Schicksal des Vaterlandes sind schmerzlich aktuell: „Wann wird aus letzter Hoffnungslosigkeit ein Wunder, das über den Glauben geht, das Licht der Hoffnung tragen?“
Olga Silantjewa