Viel mehr als nur ein Arbeitsplatz: Das Russland von Nikolai von Seela

Wollte man die deutsch-rus­sischen Beziehungen personalisieren, dann wäre Nikolai von Seela (64) ein idealer Kandidat. Der heutige Chef von Liebherr in Russland hat nicht nur familiäre Wurzeln in beiden Ländern, er kam auch schon 1983 nach Moskau – und will inzwischen nicht mehr weg. Ein Intermezzo in Nizza hat den Deutschen darin nur noch bestärkt. Über Russland kann der Manager leidenschaftlich sprechen, wie dieses Gespräch mit der MDZ – eines seiner seltenen Interviews – beweist.

Tor zum Schwarzen Meer: Im Krieg schwer umkämpft, ist Noworossijsk zu Füßen der Kaukasusberge heute eine moderne Industrie- und Hafenstadt mit 275.000 Einwohnern. (Foto: Tino Künzel)

Herr von Seela, vor 80 Jahren hat Deutschland die Sowjetunion überfallen. In diesem Zusammenhang befragen wir Deutsche, die heute an den damaligen Kriegsschauplätzen leben oder tätig sind. Wir möchten wissen, wie die Menschen dort gegenüber dem Kriegsgegner von einst eingestellt sind und welches Bild sich dem Ausländer in diesen Orten bietet. Den Anfang macht Noworossijsk, eine „Heldenstadt“ an der Schwarzmeerküste. Sie war im Zweiten Weltkrieg von den Deutschen besetzt, die jedoch unter erbittertsten Kämpfen mit ihrem Vorhaben scheiterten, weiter nach Osten und Süden vorzudringen. Noworossijsk, 1943 von der Roten Armee befreit, besitzt heute den größten Hafen von Russland …

… und den drittgrößten von Europa nach Rotterdam und Hamburg.

Was verbindet Sie mit der Stadt?

Der Noworossijsker Hafen ist einer unserer bedeutendsten Kunden, dort sind über 50 Geräte von Liebherr im Einsatz. Ich bin daher häufig und regelmäßig vor Ort. Es ist eine technische Sensation, dass Liebherr in Rostock den weltweit ersten vollelektrischen Hafenmobilkran ent­wickelt und konstruiert hat. Und der allererste, der Pionier, wurde vom Noworossijsker Hafen bestellt und inzwischen geliefert. Wir gehen davon aus, dass zwei weitere Krane demnächst folgen werden.

Wie würden Sie einem Außenstehenden Noworossijsk beschreiben?

Als eine Vielvölkerstadt mit ausgeprägtem südländischen Flair. Russland ist ja generell multinational, aber am Schwarzen Meer ist das wegen der Nähe zum Kaukasus noch spürbarer. Das Geschäftsgebaren unterscheidet sich deutlich von dem in, sagen wir, Nowosibirsk. Mit Terminen beispielsweise geht man lockerer um. Aber im Gegenzug ist man auch viel flexibler, wenn mal Probleme auftreten.

Wie begegnet man Ihnen als Deutschem an einem Ort, der so unter den Deutschen gelitten hat?

Ich bin ja nun schon einige Jahrzehnte in Russland. Aber ich habe nie etwas Negatives über Deutschland oder Deutsche gehört. Nie! Im Gegenteil. Die Russen haben im Deutschen immer einen komplementären Bruder und Freund gesehen. Das hat sich erst in den letzten Jahren etwas gewandelt aus Enttäuschung über die Dämonisierung Russlands im Westen. Trotzdem gab es in Noworossijsk nie auch nur eine Andeutung, dass man wegen der Kriegsvergangenheit etwas gegen die Deutschen hätte.

In diversen Veröffentlichungen findet man Sie je nach Quelle als Nikolai und Nikolaus. Was ist richtig?

Getauft wurde ich in einer russisch-orthodoxen Kirche im äthiopischen Addis Abeba, wo ich zur Welt gekommen bin, auf den Namen Nikolai. Als ich meinen deutschen Pass bekam, wurde daraus Nikolaus. Anders gesagt: In Russland bin ich Nikolai, in Deutschland Nikolaus und in Frankreich Nicolas.

Was hat Ihnen denn einen rus­sischen Vornamen eingetragen?

Meine Großeltern väterlicherseits stammten aus Russland. Sie hatten allerdings beide deutsche Vorfahren. So war meine Großmutter Lydia die jüngste Tochter eines deutschen Wissenschaftlers, der ursprünglich an der Berliner Universität Physik unterrichtete, aber unzufrieden war mit den Zwängen in Preußen. Dieser Georg Heinrichs entschied sich dann, in das Russland von Alexander III., dessen Herrschaft eigentlich als reaktionär gilt, auszuwandern, zunächst nach Moskau, dann nach St. Petersburg. Dort fand er mehr wissenschaftliche Freiheit als zu Hause in Deutschland. 

Wie ist diese Familiengeschichte weitergegangen?

Mein Großvater Nikolai hat im Ersten Weltkrieg gegen Deutschland gekämpft und im Bürgerkrieg auf Seiten der Weißen gegen die Bolschewiken. In der Emigration hat er im Baltikum meine Großmutter kennengelernt. Dort, in Estland, wurde dann auch mein Vater geboren. Durch meine Großmutter sind meine Schwester und ich mit der russischen Sprache aufgewachsen. Ich habe Deutsch viel später gelernt als Russisch.

Unter welchen Umständen hat dann Ihre eigene russische Geschichte angefangen?

Ich bekam von Liebherr eine hochinteressante Stelle in der Sowjetunion angeboten. 1983 bin ich nach Moskau gezogen, zunächst nur für ein Jahr.

Es gab keine Widerstände in der Familie?

Aber sicher gab es die. Mein Vater hatte mir kategorisch verboten, in einem kommunistischen Land zu arbeiten. Da musste meine Großmutter vermitteln. Später konnte ich meinen Vater überreden, die Sowjetunion zu besuchen. Er kam auch öfters. Diese Besuche haben sein Bild geändert und gemildert. Er hat dann viel Positives für sich entdeckt.

Wie haben Sie die Zeit vor der Perestroika in der Sowjetunion erlebt?

Die Geschäfte waren leer. Aber wenn man zu den Leuten nach Hause kam, dann bog sich der Tisch vor Speisen. Es gab ein Beziehungsnetz, an das man gebunden war. Und das funktionierte. Ich habe nirgends in der Sowjetunion Not gesehen. Unglücklich wirkten die Menschen auf mich in keiner Weise.

Können Sie verstehen, dass sich viele Russen gern an diese Jahre erinnern, die in Russland mit dem Begriff „Sastoj“ zusammengefasst werden, was für Stillstand, Lähmung und Reformstau steht.

Wenn man in Rechnung stellt, dass der Übergang zu einem wilden, ungezügelten und unkontrollierten Kapitalismus brutal ausfiel und viele Menschen auch gebrochen hat, kann ich die Nostalgie zumindest teilweise nachvollziehen. Man sollte aus westeuropäischer oder deutscher Sicht auch berücksichtigen, dass der russische Mensch nun mal anders denkt und fühlt und lebt, dass das Kollektivdenken eine große Rolle spielt, schon von alters her. Diese Dinge wurden in der Sowjetunion gepflegt. Es gab mehr Freundschaft und nicht diese soziale Ungleichheit wie heute.

Gorbatschow wollte eine bessere Sowjetunion und musste mitansehen, wie sie unterging. In Russland sind die meisten – anders als in Deutschland – nicht gut auf ihn zu sprechen.

Es herrschte Aufbruchstimmung, das vergessen heute viele. Gerade die Jugend blickte in den Pere­stroika-Jahren mit großer Hoffnung einer neuen Zukunft entgegen. Es folgte die bittere Enttäuschung. Das Land wurde tatsächlich ins Chaos gestürzt. Die 1990er Jahre waren von Not und Kriminalität gekennzeichnet. Man muss sagen, dass das die Putin-Regierung in Ordnung gebracht hat.

Nikolai von Seela, der passionierte Angler. Zweimal im Jahr geht der Firmenboss mit Freunden auf Expedition in entlegene Gegenden Nordrusslands. Geschlafen wird im Zelt, geangelt unter anderem der Taimen (Foto), der als Zar der sibirischen Gewässer gilt. Nach dem Foto wurde er wieder in die Freiheit entlassen.

Liebherr ist ein heute deutsch-schweizerisches Familienunternehmen, das im Maschinenbau, aber auch auf anderen Geschäftsfeldern zu Hause ist, gegründet 1949. Haben Sie Firmenpatriarch Hans Liebherr, der 1993 starb, noch persönlich kennengelernt?

Ja, dieses Glück hatte ich gleich zu Anfang meiner Tätigkeit für Liebherr in Kempten. Die Geschichte von Hans Liebherr könnte ein Hollywood-Stoff aus dem Nachkriegs-Deutschland sein. Ein ganz bescheidener, einfacher Mann aus einem kleinen Ort in Süddeutschland, ohne Hochschulausbildung, war als Soldat in Russland gewesen, hatte überlebt und erkannte nun, welchen Kran man für den Wiederaufbau Deutschlands benötigte. Das war ein schnell montierbarer Turmdrehkran, der erste seiner Art in der Welt. Liebherr lieh sich bei einem Eisenhändler Geld, baute den Kran eigenhändig und stellte ihn 1949 in Frankfurt auf der ersten Baumesse aus. Das war der Grundstein für einen Weltkonzern, der heute weiterhin zu 100 Prozent in Familienbesitz ist, über zehn Milliarden Euro Umsatz im Jahr macht und knapp 50.000 Mitarbeiter hat.

Wann tauchte die Sowjetunion auf der Landkarte Ihres Unternehmens auf?

1965 wurde der erste Vertrag mit der sowjetischen Einkaufsgesellschaft über die Lieferung von Wälzfräsmaschinen unterschrieben. Hans Liebherr war einer der ersten westlichen Unternehmer, der seinen Blick auf die Sowjet­union richtete und das Land bereiste. Er hat schnell verstanden, dass die Russen sehr gute Mathematiker und Konstrukteure sind, aber keine Technologen. Es haperte bei der Umsetzung. Daraus sind lukrative Geschäfte für beide Seiten entstanden.

Ihr Chef war seiner Zeit voraus?

Er war einer, der gegen den Strom schwamm, der anders war und weiter dachte. Ich erinnere mich, wie wir Mitte der 1980er Jahre an einem kalten Wintertag im Moskauer Hotel National saßen. Draußen wehte ein eisiger Wind, die Straßen waren leer und auf dem Kremlturm leuchtete hellrot der sowjetische Stern. Da sagte er: „Wissen Sie was? In ein paar Jahren wird sich alles ändern. Die Berliner Mauer wird fallen, zwischen Russland und Deutschland wird Freundschaft herrschen und wir werden gemeinsam Geschäfte machen.“ Um ehrlich zu sein, habe ich mir gedacht: Der Herr Liebherr wird alt, was erzählt der denn da? Wer hat damals schon geahnt, dass es genau so kommen wird? Aber so war er, er hatte diese Gabe.

Wie sehr haben ihn die Kriegserlebnisse geprägt?

Er war den Menschen in der Sowjetunion zutiefst verbunden und hat geholfen, wo es ging, ohne das an die große Glocke zu hängen. Zum Beispiel nach dem Atomunfall in Tschernobyl 1986. Da war er für die sowjetische Regierung der erste Ansprechpartner, als Technik für die Bekämpfung der Folgen gebraucht wurde. Er hat auf eigene Kosten in die Sowjetunion bringen lassen, was verfügbar war. Von Robotern über Maschinen und Sauerstofflanzen bis hin zu Planierraupen – das, was man damals im Fernsehen rund um den Reaktor gesehen hat, kam von Liebherr. Mir hat er gedroht: „Wenn Sie auch nur einem Journalisten etwas sagen, und sei es ,Guten Tag‘, dann sind Sie entlassen.“

Wie geht es Ihrem Unternehmen heute?

2011 und 2012 war Russland der größte Exportmarkt weltweit für Liebherr. Heute ist es immer noch die Nummer vier nach den USA, Frankreich und Australien. Wir machen hier über eine halbe Milliarde Euro Umsatz im Jahr und beschäftigen mehr als 2000 Angestellte. Erstaunlicherweise hatten wir ein sehr gutes Jahr 2020 mit einem Plus von 16 Prozent. In diesem Jahr werden wir weiter zulegen.

Was macht Sie da so zuversichtlich?

In Russland gibt es große Infra­strukturprojekte. Und wenn in Infrastruktur investiert wird, braucht man Baumaschinen. Außerdem beobachten wir gerade einen unvorstellbaren Boom in der Minenindustrie. Eine solche Nachfrage nach großen Mining-Maschinen habe ich selten erlebt.

Wie sind Ihre Erfahrungen mit den russischen Geschäftspartnern?

Zu Sowjetzeiten lief das Geschäft ausschließlich über die sogenannten Einkaufsgesellschafen ab, die mit den jeweiligen Lieferanten sehr hart und hochprofessionell verhandelt haben. Die Einkäufer waren technisch so versiert, dass wir bei Verhandlungen immer unsere Konstrukteure dabei haben mussten. Übrigens war die Sowjetunion der weltweit beste Zahler und hatte einen so guten Namen bei den Banken, dass es als unhöflich galt, wenn man als Lieferant überhaupt die Zahlungssicherheit angesprochen hat. Das Geld kam bis zu den 1990er Jahren immer pünktlich. Heute sind unsere Geschäftspartner immer noch emotionaler als anderswo, aber nicht mehr ganz so romantisch wie früher. Sie sind nach wie vor sehr technisch orientiert, aber schauen auch genau auf die Lebenshaltungskosten der Maschinen. Das Kalkül hat an Bedeutung gewonnen.

Um ein beliebtes Klischee aufzugreifen: Hat man jemals versucht, Sie unter den Tisch zu trinken?

Natürlich. Heute passiert das kaum noch. In Russland wird heute überhaupt viel weniger getrunken, als man allgemein annimmt. Aber früher gehörte das dazu und war teilweise schon heftig.

Die deutsch-russischen Beziehungen sind in Schieflage. Wie wären sie wieder geradezubiegen?

Indem Vertrauen hergestellt wird. Wir als Liebherr haben ein ausgezeichnetes Verhältnis zu unseren Kunden bewahrt, ganz unabhängig von der Politik. Ich glaube auch, dass die Wirtschaft viel dazu beiträgt, dass die Situation nicht noch schlimmer ist als ohnehin schon. Aber natürlich sind die Sanktionen ein Problem, genauso wie es die Schwarzmalerei in Bezug auf Russland in den westlichen Medien ist. Für mich ist das einfach schlechter Journalismus.

Sie haben den Großteil ihres Erwachsenenlebens in Russland verbracht. Was hält Sie hier?

Russland ist sehr aufregend, in jeder Beziehung. Kein Land auf dem Planeten hat sich in den vergangenen 30 Jahren so intensiv verändert. Und die Menschen haben eine intellektuelle Neugier, wie ich sie mir auch in Deutschland wünschen würde, vor allem bei der Jugend. Meine Tochter Katia hat an der TU München studiert. Ab und zu sind wir in München mit ihren Freunden unterwegs. Das sind sehr kultivierte, gut aussehende, nette Leute, mit guten Noten. Aber von denen kommt kaum mal eine Frage zu Russland. Wenn wir dagegen mit Katias russischen Freunden in Moskau zusammen sind, dann werde ich mit Fragen über den Westen nur so gelöchert. Das meine ich mit Neugier.

Sie bleiben in Russland?

Ja. Wir bauen gerade ein Haus auf dem Land. In den 1990er Jahren wollten wir auch mal im Westen leben und sind nach Südfrankreich umgezogen. Aber auf die Dauer wurde es in Nizza langweilig. Dann habe ich ein neues Angebot von Liebherr bekommen und nach sieben Jahren waren wir zurück in Russland. Wir haben es nie bereut und sind hier sehr glücklich.

Das Interview führte Tino Künzel.

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