„Für uns ist jeder Tag ein Festtag“
Die Sorokins sind eine fünfköpfige Familie, allein das ist selten genug. Aber geradezu einmalig an ihnen ist, dass sie sich in der Nähe von Kaliningrad um ein halbverfallenes Schloss aus deutscher Vorzeit der Region kümmern, damit es wieder in alter Schönheit erstrahlt. Dafür sind sie extra aus Belgorod südlich von Moskau in Russlands westlichste Region gezogen.
Wie kommt man wohl auf die Idee, in Eigeninitiative ein Schloss zu restaurieren? Nadeschda Sorokina überlegt einen Moment und sagt dann, das wisse sie eigentlich auch nicht so genau. „Vielleicht ist es so: Wir haben ein interessantes Leben. Wissen Sie, ich bin 41 Jahre alt und lerne jeden Tag etwas dazu.“ Bei einer Dienstreise in die Region Kaliningrad mit deren deutscher Vergangenheit als Teil von Ostpreußen wurden die Sorokins 2012 auf das rund 750 Jahre alte Schloss aufmerksam, das sich in einem bedauernswerten Zustand befand – und beschlossen, es auf Vordermann zu bringen. „Andere kaufen sich von ihrem Geld einen Cadillac oder machen Urlaub in Ägypten. Für uns ist hier jeder Tag ein Festtag“, sagt Nadeschda. Mit ihrem Mann Sergej Sorokin und den Kindern Sawelij, Pawel und Jelena lebt sie auf der Anlage in Nisowje (ehemals Waldau), einem Vorort von Kaliningrad – dem früheren Königsberg – zur Miete.
Den Bau hat die Familie schon mal aus seinem Dornröschenschlaf erweckt. Außen wie innen macht Schloss Waldau einen viel freundlicheren Eindruck als noch vor ein oder zwei Jahren. Er zieht Künstler und allerlei neugierige Besucher an. In manchen Räumen wird bereits musiziert, eine 3D-Ausstellung ist im Gange. Gegen einen kleinen Obolus können Gäste für eine Stunde in die Rolle des Schlossherren oder der Schlossherrin schlüpfen. Dafür bekommen sie einen Schlüssel, einen Mantel und Kerzen ausgehändigt.
In diesem Jahr wurde auf Schloss Waldau eine Folge der beliebten russischen TV-Serie „Nach den Gesetzen der Kriegszeit“ gedreht. Auch zwei gastronomische Fernsehsendungen wählten den Ort für ihre Drehs. Agro- und Gastrotourismus ist auch die Zukunft, die sich die Sorokins für ihr Schloss wünschen. Sie selbst bauen Waldau-Spargel an und hätten schon 2020 ein erstes internationales Spargel-Festival veranstaltet, wenn nicht die Pandemie ihnen in die Suppe gespuckt hätte. Nun soll es in diesem Jahr stattfinden.
Ihre Erfahrungen teilen die Sorokins gern mit anderen. Im November begann ein Kurs, bei dem Sergej Sorokin zwölf Interessenten beibrachte, wie man historische Eingangstüren restauriert. Veranstalter war ein regionaler Fonds, der für die Sanierung alter Gebäude zuständig ist. Bisher wurden die Türen der Einfachheit halber meist ausgetauscht, Fachleute für die Arbeit mit ihnen gab es ohnehin nicht. Doch immer mehr setzt sich die Erkenntnis durch, dass die Region mit ihrer Vielzahl an Bauten aus deutscher Vorzeit einen Schatz besitzt, den es zu erhalten gilt. So original wie möglich.
Das Beispiel der Familie Sorokin macht dabei gerade Schule. Zuletzt hat die Region Kaliningrad ein Kreditprogramm für den Erhalt und Wiederaufbau historischer Bauten aufgelegt. Die Laufzeit liegt bei bis zu 15 Jahren, der Zinssatz bei null. Werden alle Bedingungen eingehalten, kann nach Entscheidung einer Kommission sogar die Hälfte der Kreditsumme erlassen werden. Nadeschda Sorokina hält das für einen richtigen und wichtigen Schritt. Schließlich gebe es der Gegend so viele Schlösser „wie Metrostationen in Moskau“.
„Wir haben gelernt, zu überleben“
Die Gastronomie gehört zu den Branchen, die am meisten unter der Pandemie leiden. Ausgerechnet jetzt muss sich Michael Reichel mit seinem Schnitzelstand behaupten, den er am 31. Dezember 2019 in Moskau eröffnete. Den Lockdown im Frühjahr überstand der Sachse, in Chemnitz geboren und seit seinem zweiten Lebensjahr in Russland, dank Lieferservice. Heute ist er für die Zukunft vorsichtig optimistisch.
Es gab eine Zeit, da hätte man meinen können, das Gaststättengewerbe sei über den Berg. „Bis August“, sagt Michael Reichel, sei es nach dem Ende des Lockdowns immer weiter bergauf gegangen. Nicht, dass Normalität eingekehrt wäre, das nun nicht. Schließlich fehlten die ausländischen Touristen, fehlte auch der reguläre Messebetrieb. Doch die Lage entspannte sich so weit, dass Reichel mit seinem Schnitzelladen „Karl Schnitzel“ – Karl wegen Karl-Marx-Stadt, seinem Geburtsort – das erste Mal einen Gewinn erwirtschaftete. Es blieb in mittlerweile fast einem Jahr Betrieb der einzige Monat.
Bereits kurze Zeit später türmten sich neue Berge vor den Gastronomen auf und sie waren höher als die vorherigen. Schon bald nach Ende der Urlaubssaison wurden die Arbeitgeber in Moskau verpflichtet, ein Drittel ihrer Mitarbeiter ins Homeoffice zu versetzen. Auf der Bagration-Brücke zwischen Kutusow-Prospekt und Moskau-City, wo „Karl Schnitzel“ seine Gäste bedient, war das sofort zu spüren. Der November sei dann quer durch die Branche „ganz traurig“ gewesen, sagt Reichel. Da hätten alle Anti-Rekorde bei den Einnahmen aufgestellt. Auf der Fußgängerbrücke, die pro Tag im Schnitt von 13.000 Menschen passiert werde, sei zuletzt vielleicht noch halb so viel Betrieb gewesen. Und die nächsten Monate bis zum Frühjahr oder sogar Sommer würden noch mal hart. Während bei der Ausgangssperre von März bis Juni 2020 zumindest klare Verhältnisse geherrscht hätten und man sich vor diesem Hintergrund mit dem Vermieter auf günstigere Konditionen einigen konnte, sei die Situation nun ohne Ausgangssperre, aber auch fern der Normalität unübersichtlicher und schwieriger vorherzusagen, wie die Geschäfte laufen.
Dennoch ist der Kleinunternehmer nicht unzufrieden. Der gute Sommer habe gezeigt, dass das Geschäftsmodell funktioniere und man „am Markt angekommen“ sei. Beim Lieferservice – der teils für 70 bis 80 Prozent der Umsätze verantwortlich zeichnet – profitiere „Karl Schnitzel“ davon, bisher ein praktisch exklusives Produkt anzubieten. Es zahle sich auch aus, im Lockdown nicht auf die auf staatliche Hilfsmaßnahmen wie Miet- und Steuerstundungen zurückgegriffen zu haben. Denn diese Gelder würden nun Anfang des Jahres fällig. „Da werden wohl viele auf der Strecke bleiben“, meint Reichel.
Er denkt dagegen schon an den „nächsten Schritt“. Ohne Corona hätte man inzwischen vermutlich bereits den zweiten und dritten Stand eröffnet. So aber spielt Reichel mit dem Gedanken, Lebensmittelläden mit Tiefkühlschnitzeln zu beliefern. Einstweilen kommt man auch mit der „Schnitzelnaja“ auf der Bagration-Brücke über die Runden, am Monatsende steht eine Null in der Bilanz. Reichels Jahresfazit könnte sicher für viele gelten: „Wir haben gelernt, zu überleben.“
„Ich kann wieder 25 Meter tauchen“
Kai-Uwe Gundermann arbeitet für eine deutsche Unternehmensberatung, lebt aber mit Frau und Tochter in Moskau. Im April lag er hier mit Covid-19 zweieinhalb Wochen im Krankenhaus – erst in einem staatlichen, wo es ihm von Tag zu Tag schlechter ging, dann in der privaten russischen Medsi-Klinik. Dort kam er relativ schnell auf die Beine.
„Ich kann inzwischen wieder 25 Meter tauchen“, lacht Kai-Uwe Gundermann. Von seiner Covid-19-Erkrankung im Frühjahr hat er sich vollständig erholt. Dass er sich damals zunächst in ein staatliches Krankenhaus einweisen ließ, bezeichnet er heute als „Fehler“. In der privaten Medsi-Klinik habe er sich dann sogar besser aufgehoben gefühlt als in einer vergleichbaren deutschen Einrichtung. „Wie man sich dort gekümmert hat, das habe ich als Privatpatient in Deutschland so noch nicht erlebt.“ Sehr früh habe die Rehabilitation begonnen, auch Propolis zum Neuaufbau von Lungengewebe habe sehr geholfen. Und die Weiterbetreuung nach der Entlassung sei erstklassig gewesen.
Heute versucht Gundermann, Vernunft und Umsicht walten zu lassen. „Im Vergleich zu Deutschland sind wir hier ja gar nicht eingeschränkt. Aber ich gehe zum Beispiel nicht tagsüber ins Fitnessstudio, sondern morgens, nachdem ich meine Tochter, die die Deutsche Schule besucht, zum Schulbus gebracht habe.“ Man vermeide Einkäufe zu Stoßzeiten und bestelle sogar Lebensmittel bevorzugt online, auch auf die Datscha, die sich mehr als 20 Kilometer jenseits der Moskauer Ringautobahn in einer ländlichen Gegend befinde. „Das darf man in Deutschland, wo das bestenfalls in der Großstadt funktioniert, gar keinem erzählen. Hier wird man auch im Umland genauso tadellos beliefert wie in der Stadt, hat die große Auswahl und preiswert ist es auch noch.“
Tino Künzel