Wenn die Europäer wüssten, wohin ihre Sanktionen führen. Ins Nichts, wollte man vorhin im Taxi noch meinen, als der Fahrer zu schnell über einen staubigen Feldweg fuhr. Es schaukelte auf der Rückbank und der Blick schweifte über saftig grüne Wiesen und sanfte Hügel. Hier und da eine Kuh. Eine Landschaft fast wie im Heidi-Film, nur ohne Berggipfel. Bis nach einer Kurve ein großes, weites Feld im Nichts auftauchte. Darauf ein Zelt, ein Fahnenmast mit gehisster russischer Flagge und eine Käserei.
Das Feld liegt in der Nähe der Stadt Istra, etwa 70 Kilometer nordwestlich von Moskau. Oleg Sirota ist hier seit zwei Jahren mit seiner Käserei zuhause. „Ruskij Parmesan“ hat er sie genannt. Und am ersten Augustwochenende beging er ein Jubiläum, das von den Urhebern nicht als Grund für eine Party gedacht war: „Wir feiern drei Jahre Sanktionen“, lautet das Motto der Veranstaltung. Sirota ist offenbar nicht der einzige, den das in Feierlaune versetzt.
Hunderte Autos parken auf dem Feld. Insgesamt werden die Veranstalter von Samstagmorgen bis Sonntagabend tausende Gäste zählen, die schwere Tüten nach Hause tragen. Und rund 70 Käsehersteller, die ihre Produkte fast im Sekundentakt verkaufen. Gouda und Ziegenkäse, Mozzarella, Feta und Parmesan. Alles aus eigener Herstellung. Alles russischer Käse.
Der hat bisher keinen besonders guten Ruf. Bis 2014 kauften viele Russen lieber Käse aus Italien, Frankreich oder den Niederlanden. Dann kamen die Sanktionen des Westens und Russland konterte mit einem Importverbot für frische Lebensmittel – einschließlich Käse.
Das lieferte im Ausland erstmal Grund zur Schadenfreude. Von einer selbst gemachten „Käse-Krise“ war in deutschen Medien die Rede, als in Russland die Preise für Camembert und Co. stiegen, Verbraucher über schlechten russischen Ersatz klagten und Expats ihre Besucher baten, guten Käse aus Europa mitzubringen. Obst und Gemüse konnte man selbst anbauen oder aus anderen Staaten einführen, aber europäischer Käse schien unersetzbar zu sein.
Mit deutschem Know-how
Drei Jahre später wird in Istra eine andere Botschaft vermittelt: Leckeren Käse? Können wir jetzt selbst, und zwar dank der Sanktionen. Am deutlichsten sagt das der Initiator des Festivals. Sirota wollte schon früher Landwirt werden, arbeitete aber zunächst in der IT-Branche. Als das Lebensmittelembargo beschlossen war, gab er seinen Job auf, um seinen eigenen Käse herzustellen. Das Geschäft läuft gut, sein „russischer Parmesan“ wird auch jenseits von Istra schon gegessen.
Hergestellt wird er inzwischen von neun Mitarbeitern. Einer von ihnen bringt auch deutsches Know-how mit ein. Der Russlanddeutsche Sergej hat 20 Jahre in Wiesbaden gelebt und dort Molkereifachmann gelernt. Nun ist er zurückgekehrt, weil Leute mit seiner Qualifikation in Russland jetzt gebraucht werden. Er könne sich sogar vorstellen zu bleiben, sagt er und reicht eine dicke Scheibe sonnengelben Hartkäse zum Probieren.
Von einem Schweizer getestet
Es schmeckt vorzüglich. Das findet auch ein Gast, der es wissen muss. Hans ist Schweizer und als solcher erstens Käsekenner und zweitens neutral. In Russland macht der pensionierte Landwirt gerade ein Praktikum in einem Milchbetrieb. Dieser wird seit 15 Jahren von seinen Landsleuten geführt und beliefert auch Sirotas Käserei. Vom Endergebnis ist der Luzerner begeistert, auch wenn die Produktion nicht so hochtechnisiert ist wie in der Schweiz: „In Russland kann man lernen, dass es auch mit einfacheren Mitteln funktioniert.“ Importierter Schweizer Käse dürfte dagegen für die wenigsten Russen eine Option sein, hat Hans beobachtet. „Der ist für normale Russen viel zu teuer.“
Günstig kommt auch beim Käsefestival niemand weg. Zwischen 1000 und 2000 Rubel pro Kilo liegen die Preise, umgerechnet etwa 14 bis 28 Euro. Zum Vergleich: 2016 lag der Durchschnittspreis für Käse in Russland laut Statistikamt Rosstat bei 428 Rubel pro Kilogramm.
Das hält jedoch beim Festival kaum jemanden ab, tütenweise Käse zu kaufen. Jekaterina und Jelena haben gerade einen Fünftausend-Rubel-Schein über die Theke gereicht. „Der Käse ist teuer, aber unerwartet gut“, sagen die beiden Frauen, die wie viele Gäste aus der Hauptstadt gekommen sind. Im Supermarkt sei die Auswahl begrenzt, finden sie. Aber hier zeige sich, dass russischer Käse selbst mit Schweizer mithalten kann. „Dann ist es doch besser, heimische Produzenten zu unterstützen.“
Und auch Olga und Alexej haben schon kräftig eingekauft: „Wir sind hier, um die Sanktionen zu feiern. Wir sind froh, dass all diese Leute jetzt die Möglichkeit haben, sich zu entwickeln.“ Von der Käse-Krise zum Käse-Wunder also, dank Sanktionen und Embargo? Das passt Politikern natürlich gut ins Konzept, die gerne darauf hinweisen, dass das Importverbot für Lebensmittel der heimischen Landwirtschaft geholfen habe.
Für den russischen Magen
Die Preise und das Angebot in den Supermärkten sprechen eher eine andere Sprache. Dort wähnt sich kaum jemand im Käse-Paradies, wenn er sich zwischen gut und bezahlbar entscheiden muss. Und selbst die Hersteller wollen nicht alle ihren Erfolg so offensiv den Sanktionen zuschreiben wie Sirota das gerne und öffentlichkeitswirksam tut.
Jelena zum Beispiel erzählt an ihrem Ziegenkäse-Stand, dass ihre Unternehmensgründung zufällig mit dem Embargo zusammenfiel. Sie hatte länger geplant, eine Käserei zu gründen. Aber das Embargo habe die Nachfrage natürlich angekurbelt. Auch ihr Kollege Boris, Filmproduzent und Hobbykäser, sagt: „Kunden für unsere Produkte gab es schon vorher. Jetzt haben sie nur weniger Alternativen.“ Embargo hin oder her, er ist der Meinung, russischer Käse sei ohnehin besser als importierter. „Die russischen Kühe essen das, was gut für den russischen Magen ist.“
Drei Jahre Embargo
Bevor Russland ein Embargo verhängte, gehörte es zu den größten Käseimporteuren der Welt. Pro Jahr wurden 400 000 Tonnen eingeführt, vor allem Halbhart-Käse, der zu 60 Prozent aus europäischen Ländern wie Frankreich, den Niederlanden und Italien kam. Die Import-Abhängigkeit zu reduzieren, erfordert seit 2014 einen Kraftakt in der russischen Landwirtschaft. Vor dem Embargo stagnierte die eigene Milchproduktion. Heute deckt sie noch immer nur 60 bis 65 Prozent des Bedarfs. Der Rest muss importiert werden, etwa aus Weißrussland. Von dort kommt auch Käse, ebenso aus Ländern wie Serbien oder Argentinien. Zugleich stimuliert das Embargo die heimische Käseproduktion. Von 2013 bis 2015 stieg sie um 75 Prozent. Laut einer Studie der Consulting-Gruppe „Tekart“ kann die russische Käseproduktion bis 2020 die Eine-Millionen-Tonnen-Marke überschreiten.
Corinna Anton, Katharina Lindt