Herr Grinberg, was versteht man in Russland unter dem Begriff des Klein- und Mittelunternehmertums?
Beginnen wir damit, dass kleine Unternehmen in Russland kein Mittelstand sind. Für Deutsche ist das ein philosophisches Verständnis. Rund zwei Drittel der deutschen Wirtschaft ruhen auf den Schultern der Mittelschicht. In Russland ist das aber nur ein Fünftel. Und diese Zahl ist seit 15 Jahren unverändert klein.
Auch wenn alles perfekt wäre, liegt das Problem tiefer. Es gibt in Russland in der verarbeitenden Industrie kaum große Unternehmen, die aber nötig wären, damit Kleinunternehmer Aufträge bekämen. Großunternehmer gibt es im Finanz- und Rohstoffbereich, wo man aber keine Auftragsverteilung an kleinere Unternehmen braucht. Deshalb gibt es kleines und mittleres Business in Russland nur in der Gastronomie, im Servicebereich und im Bauwesen. Das war’s.
Wo liegen die historischen Wurzeln des Unternehmertums in Russland?
Russland hat während der Perestrojka unter Gorbatschow eine verblüffende und historische Möglichkeit für das Unternehmertum bekommen. Die Erträge sehen wir heute: Die erste Generation legaler Unternehmen ist herangewachsen. In der Sowjetunion gab es zwar einzelne Elemente einer privaten Ökonomie. Vor allem in Ungarn war sie stark ausgeprägt. Das war sicher auch ein Grund, warum ihnen der Übergang vom Sozialismus zur Marktwirtschaft leichter geglückt ist. In Russland stand jedoch Unternehmertum 70 Jahre lang unter Strafe. Ein frischer Wind wehte erst dann durchs Land, als der Unternehmergeist einen legalen Status bekam.
Was haben Sie in dieser Zeit gemacht?
Von 1988-89 war ich Berater des Vorsitzenden des ersten russischen Genossenschaftler-Verbandes. Wie viele tolle Menschen gab es da! Viele begannen damals, Ateliers, Restaurants und Baufirmen zu eröffnen. Die Ertragssteuer lag bei nur zwei Prozent. Aber dann hatten viele den Eindruck, dass Gorbatschow zögerte. Stimmen wurden laut, dass wir kapitalistischere Unternehmen bräuchten. Damit begann die Zeit des heftigen Oligarchen-Kapitalismus. Ich nenne ihn anarcho-feudalistischen Kapitalismus: Auf der einen Seite stehen die 90-Prozent-rette-sich-wer-kann, auf der anderen Seite die restlichen zehn Prozent, die alle Entscheidungen trafen. Und auch heute unterstützt man das Klein- und Mittelunternehmertum bei uns nur scheinbar, de facto aber führt es ein bedauernswertes Dasein.
»Entweder alles wird schlechter, besser oder bleibt gleich. Wenn ich ehrlich bin, wir leben in einer Zeit der globalen Unvorhersehbarkeit.
Welche Reformen braucht denn das Kleine und Mittlere Business in Russland – auch im Vergleich zu Deutschland?
Eine Justizreform. Wir brauchen unabhängige Gerichte und eine unabhängige Rechtsprechung. Und natürlich eine andere Industriepolitik. Es sollte ein Prozess der Reindustrialisierung geben, damit die Verarbeitungsindustrie eine vergleichbare Position einnehmen kann wie in Europa, die ein Musterbild der Industrielandschaft ist. Die staatliche Unterstützung muss sehr stark sein, damit der Übergang von einer Rohstoff-Ökonomie zu einer ausbalancierten glücken kann.
Sie sagten in einem Interview, dass die aktuelle Wirtschaftskrise selbstverschuldet sei. Wie wirkt sich das auf den Mittelstand aus?
Im Zusammenhang des stark zurückgegangenen Imports und Exports, der Einnahmen und des Handels auf 35-50 Prozent begann eine langanhaltende Stagnation. Das Schlimme daran ist die stark sinkende Kaufkraft der Bevölkerung seit zwei Jahren. Und die Inflation ist weiterhin hoch, in diesem Jahr erreicht sie fünf Prozent. Natürlich wird es bald Probleme mit Rücklagen geben. Nur ein Drittel der Bevölkerung kann sparen.
Das klingt düster. Was ist Ihre Prognose?
Es gibt drei Varianten: Entweder alles wird schlechter, besser oder bleibt gleich. Wenn ich ehrlich bin, wir leben in einer Zeit der globalen Unvorhersehbarkeit. Sowohl in Deutschland als auch in Russland. Ich hoffe sehr, dass Russland beginnt, im Wirtschaftsbereich mehr zu riskieren und nicht noch weiter wartet, bis sich der Ölpreis stabilisiert, wie wir es gewöhnlich tun.
Das Gespräch führte Katharina Lindt.
ZUR PERSON: Ruslan Grinberg
Grinberg ist ein russischer Wirtschaftswissenschaftler. Er war von 2005 bis 2015 Direktor des Wirtschaftsinstituts der Akademie der Wissenschaften.
Er lehrt bis heute noch an mehкeren Moskauer Hochschulen, unter anderem an seiner eigenen „Alma Mater“, der Lomonossow-Universität.
Ende Mai tritt er auch beim 2. Kultur- und Geschäftsforum „Made by Deutschen aus Russland. Partnerschaft. Verantwortung. Erfolg“ in Bayreuth als Experte mit einem Vortrag über die russische Unternehmenswelt auf.