Papa, was heißt „Geh weg“? Vom Leben und Einleben in Deutschland

Nach Schätzungen haben allein in den letzten Monaten mehrere hunderttausend Russen ihr Land verlassen. Der Russlanddeutsche Anton Glockhammer (34) ist schon 2019 weg – aus Sibirien nach Norddeutschland. Hier spricht er darüber, wie er und seine Familie diesen Umzug erlebt haben, mit allen Höhen und Tiefen.

Familie Glockhammer an einem deutsch-russischen Urlaubsort: in der Türkei (Foto: Privat)

Rendsburg

Wir sind im September 2019 in Rendsburg angekommen. Meine Eltern haben dort ein Haus. Ich kenne Rendsburg noch aus meiner Kinder- und Jugendzeit. Als Spätaussiedler-Familie hat es uns einst dorthin verschlagen, da war ich zwölf. Neun Jahre später bin ich aus reiner Neugier das erste Mal seit unserer Ausreise wieder in Russland gewesen – und bin geblieben. In meiner sibirischen Geburtsstadt Tomsk habe ich Elektrotechnik studiert, geheiratet, eine Familie gegründet. Jetzt werden es bald drei Jahre, dass ich zurück in Deutschland bin.

Rendsburg ist eine Stadt in Schleswig-Holstein, aber eigentlich ein großes Dorf. Selbst bei schönem Wetter sieht man kaum Leute auf der Straße. Der Ort wirkt wie ausgestorben. Als vor zwei Jahren der Lockdown war, hat man den Unterschied gar nicht groß gemerkt.

Aller Anfang

Seit vorigem Sommer sind wir eine richtige Großfamilie. Da wurde nämlich unser dritter Sohn Martin geboren, nach Michael (7) und Max (4). Aber so ganz ungetrübt war das Familienglück lange Zeit nicht. Wir hatten ein schwieriges erstes halbes Jahr in Rendsburg. Die Suche nach einem Kitaplatz blieb erfolglos. Die Kinder waren deshalb nur zu Hause. Es gab keine Kontakte, keine Sprachförderung. Wir sind alle ziemlich durchgedreht.

Ich habe parallel Arbeit gesucht, zunächst ausschließlich in München. Ich wollte unbedingt nach Süddeutschland. Aber letztlich war von 60 Bewerbungen die einzige, die ich nicht nach München, sondern Hamburg verschickt habe, erfolgreich. Als ich die Zusage hatte, habe ich sofort mit der Wohnungssuche begonnen. Jetzt sind wir schon zwei Jahre in Hamburg-Sasel und einfach nur froh, dass es so gekommen ist.

Wir kannten ja Hamburg nicht näher, aber haben es sehr gut getroffen. Ein tolles Viertel, mit tollen Nachbarn. In Tomsk hatten wir auch eine schöne Wohnung, aber sie befand sich in einem Neubau auf umzäuntem Gelände, mit einer Schranke davor. Die Nachbarschaft jenseits des Zauns war dann schon nicht mehr so schön.

Beruf

Ich bin jetzt Berater in der Energiewirtschaft. Bei der Arbeitssuche habe ich mich auch auf mein Elektrotechnik-Studium in Tomsk besonnen. In Deutschland ist es ja superwichtig, was für ein Papier du vorzuweisen hast. Mit Projektmanagement habe ich in Russland viel Erfahrung gesammelt. Bis heute werde ich auf die Bäckerei angesprochen, die ich in Tomsk hatte. Das ist zu einer Art Markenzeichen geworden. Aber ich habe noch viele andere Sachen gemacht und damit im Gegensatz zu der Bäckerei auch gutes Geld verdient, beispielsweise im Vertrieb für Laborausstattung in ganz Sibirien.

Wir hatten ein gutes Leben in Tomsk und konnten uns alles leisten, was die Stadt bietet, ohne auf die Preise zu achten. Aber dafür musste ich teilweise auch 16 Stunden am Tag und sechs Tage in der Woche arbeiten. Das galt auch für die Köche in dem Restaurant, das ich eine Zeitlang geleitet habe. Was sie damit verdient haben, reichte gerade so, um über die Runden zu kommen.

Lebenshaltungskosten

Die reinen Zahlen sind in Deutschland natürlich höher als in Russland. Aber ich vergleiche anders. Ich habe hier in Hamburg eine Anstellung, wie sie ein Berufsanfänger hat, frisch nach dem Studium. Mit dem Gehalt kann ich als Alleinverdiener den Unterhalt meiner Familie bestreiten, einschließlich der 1600 Euro Warmmiete unserer Wohnung mit ihren 100 Quadratmetern. Wir machen Wochenendausflüge, fahren zweimal im Jahr in Urlaub. Klar, zurücklegen können wir von dem Geld nichts, es wird alles ausgegeben. Aber es ist ja auch der Start.

Das ist mit Russland nicht zu vergleichen. Wenn du dort deinen ersten Job hast, musst du beim Einkaufen im Supermarkt jeden Rubel zweimal umdrehen. Unser Lebensniveau hat sich gegenüber Tomsk nicht verändert. Aber dort habe ich auch zu den Topverdienern gehört. Hier gehöre ich erst einmal eher zu den Geringverdienern.

Vorbehalte

Meine Frau Lena wollte nicht weg aus Tomsk. Sie ist mitgekommen, aber nicht mit dem Herzen. In Deutschland noch einmal von vorn anzufangen, ohne Freunde, ohne die Sprache zu können, damit hat sie sich schwergetan. Und schließlich ging es uns ja gut in Russland. Deshalb stand die Frage „Warum?“ ständig mit im Raum.

Tja, warum? Ich habe schon lange mit Sorge verfolgt, in welche Richtung sich Russland entwickelt. Von Freunden und Verwandten wurde ich deshalb regelmäßig für verrückt erklärt. Anton, du übertreibst, haben sie gesagt. Aber inzwischen ist das eingetreten, was ich befürchtet hatte. Das hat auch vielen die Augen geöffnet, die mir all die Jahre nicht glauben wollten. Als Familie sind wir erst jetzt so richtig angekommen. Auch, weil klar ist: Es gibt definitiv kein Zurück mehr nach Russland.

Das größte Opfer

Lenas Eltern haben uns damals mit einem weinenden Auge – genau genommen mit zwei weinenden Augen – verabschiedet. Die einzige Tochter gehen zu lassen, die Enkel nicht mehr aufwachsen zu sehen, das ist ihnen garantiert alles andere als leicht gefallen. Bis dahin waren sie buchstäblich jeden Tag bei uns. Aber sie haben unseren Umzug befürwortet und sind sehr tapfer damit umgegangen, haben ihr Großeltern-Glück geopfert. Wir telefonieren, sie haben uns inzwischen auch in Hamburg besucht und noch einmal bekräftigt, wie richtig die Entscheidung war.

Michael

Unser ältester Sohn geht in die erste Klasse. Auch er hat keine einfache Zeit hinter sich. In seinem Tomsker Kindergarten war er ein „Star“ und stand immer im Mittelpunkt. In Hamburg musste er nun erleben, dass ihn die anderen Kinder nicht mitspielen ließen. Nach einem Monat in der Kita hat er mich gefragt: Papa, was heißt „Geh weg“? Das hat mir so leidgetan.

Michael ist ein kleiner Philosoph, weiser als wir alle in der Familie. Auch wenn er erst sieben Jahre alt ist, kann man ihn echt nach seiner Meinung fragen. Er weiß, was richtig und was falsch ist. Und er kann sich artikulieren. Aber als er in die Kita kam, ging das noch nicht auf Deutsch, er wusste nur einzelne Wörter. Deshalb hat er nicht gesprochen und wurde daraufhin ein bisschen gemieden, obwohl er tolle Erzieherinnen hatte.

Doch das ist alles vorbei. Mit der Einschulung ging es vom ersten Tag an bergauf. Er hat sofort Freunde gefunden, spricht mittlerweile auch fließend Deutsch, ist im Sportverein. Michael hat alle Schwierigkeiten überwunden und schnell gelernt. Ich würde sagen, er und Max haben sich in Deutschland eingelebt. 

Russland in Deutschland

Russlanddeutsche Spätaussiedler haben oft eine starke Bindung zu ihrer alten Heimat, auch wenn sie schon lange in Deutschland leben. Wie ist das zu erklären? Ich schätze mal, dass bei vielen zu Hause Russland ist. In den eigenen vier Wänden wird Russisch gesprochen und russisches Fernsehen geschaut. Ich glaube, dass die Leute, selbst wenn sie gut integriert sind, sich teilweise gar keine großen Gedanken darüber machen, warum die Straßen in Deutschland so sind, wie sie sind, oder warum man so viele Radfahrer in der Stadt sieht. Das wird als gegeben hingenommen, nicht als Ergebnis einer bestimmten Politik.

Aber man muss auch in Rechnung stellen, dass die Russlanddeutschen häufig einer körperlich anstrengenden Arbeit nachgehen, als Handwerker zum Beispiel, nicht wie ich nur mit einer Maus. Nach Feierabend, in den wenigen Stunden bis zum Schlafengehen, zieht man sich dann das rein, was vertraut ist. Und man glaubt dem deutschen Staat nicht, so wie man dem russischen – nach einschlägigen Erfahrungen – nicht geglaubt hat. Das zeigt sich in einem generellen Misstrauen gegenüber der Politik.

Aufgeschrieben von Tino Künzel

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