In Russland Deutscher, in Deutschland Russe

Anton Glockhammer hat seine Kindheit in Russland verbracht und seine Jugend in Deutschland. Er gehört zu jenen Spätaussiedlern, die es nach einiger Zeit wieder in die alte Heimat zog. 2008 nahm er nach Abitur und Bundeswehr nicht wie geplant ein Studium in Hamburg auf, sondern in seiner sibirischen Geburtsstadt Tomsk. Das war eine Bauchentscheidung. Jetzt ist der Russlanddeutsche, der akzentfrei Deutsch spricht, 31 und hat eine Kopfentscheidung getroffen: Er will zurück nach Deutschland. Der Kinder wegen. Wie er das begründet, ist ein Stück deutsch-russische Heimatkunde.

Vorigen Herbst habe ich mir in Tomsk ein Büro gemietet und dort ein „Deutsches Zentrum“ eröffnet, als Ein-Mann-Betrieb. In erster Linie gebe ich Sprachunterricht. Pro Tag sind das vier bis sechs Einheiten von je 90 Minuten. Danach ist der Kopf ein wenig schwer, aber die Seele leicht. Das Ganze bereitet mir viel Freude und ist sehr gut angelaufen. Ich frage mich, warum ich das nicht schon vor zehn Jahren zum Beruf gemacht habe.

Schüler hatte ich fast immer, aber nur nebenbei. Geld verdient habe ich seit meinem Elektro­technik-Studium in Tomsk stattdessen mit den verschiedensten Jobs. Ich hatte meine eigene Bäckerei, habe im Vertrieb gearbeitet, eine Getränkemarkt-Kette und zuletzt ein Restaurant mit 24-Stunden-Lieferservice und 100 Angestellten geleitet. Im Restaurant habe ich es nur acht Monate ausgehalten. Ich war der einzige Ansprechpartner, wenn Probleme auftraten, was auch nachts der Fall sein konnte, und hatte keinen einzigen freien Tag.

Ich war deprimiert. So konnte es nicht weitergehen. Mit dem Sprach­unterricht habe ich jetzt zum Glück etwas gefunden, was mich nach getaner Arbeit gut gelaunt nach Hause kommen lässt.

Mit Frau und Kindern: Anton Glockhammer plant die Rückkehr von der Rückkehr und sieht die Zukunft seiner Familie in Deutschland. © Privat

Meine Eltern und meine gesamte Verwandtschaft leben in Deutschland. Ich stamme väterlicherseits von Wolgadeutschen ab. 1941 wurden sie nach Kasachstan zwangsumgesiedelt. Meine Eltern haben sich beim Studium in Tomsk kennengelernt und geheiratet, 1987 bin ich hier in Sibirien zur Welt gekommen. Als ich zwölf Jahre alt war, sind wir als Spätaussiedler von Tomsk nach Deutschland gegangen. So, wie in Russland alle Deutscher zu mir sagen, hieß es dort immer: „Ey, du Russe.“ Da wird man gar nicht gefragt. Du kannst noch so gut Deutsch sprechen und die besten deutschen Aufsätze schreiben – wenn du aus Russland kommst, bist du automatisch „Russe“. Man kann seine Herkunft höchstens geheim halten  – was einige auch machen, ich kenne solche Fälle – oder eben dazu stehen. Wir haben nie ein Hehl daraus gemacht, dass wir aus Russland sind, und uns eigentlich sehr gut eingelebt.

 „Ich habe ein gefährliches Land erwartet, wie Afrika oder so“

Mit 21 Jahren habe ich mir dann gedacht: Wenn sie dich schon Russe nennen, dann solltest du Russland auch mal gesehen haben. Ich hatte ja keine Ahnung, was das für ein Land ist, nur eine bestimmte Vorstellung, die sich aus meinen eigenen Erinnerungen und dem Nachrichtenbild speiste, das in Deutschland ja nicht besonders positiv ist. Ich habe ein gefährliches Land erwartet, wie Afrika oder so. Deshalb wollte ich nicht nach Moskau, sondern nach Tomsk, wo mich wenigstens jemand aufnehmen konnte, wir hatten ja noch alte Kontakte.

Im Sommer 2008 bin ich gefahren. Es sollte für ein paar Wochen sein, im Herbst wollte ich ein Informatikstudium in Hamburg antreten. Doch ich bin in Tomsk geblieben. Warum, das frage ich mich manchmal heute noch. Vor allem war es wahrscheinlich Neugier. Und eine Art Mutprobe. Vom Wehrdienst abgesehen, war ich das erste Mal von zu Hause weg, musste auf eigenen Beinen stehen, meine eigenen Erfahrungen machen. Und dann die Freiheit, die Russland geboten hat! Es schien überhaupt keine Regeln zu geben, jeder konnte tun und lassen, was er wollte. Ich habe viele junge Leute getroffen, die sehr offen waren. Dazu kam, dass ich auf einmal das Russische, das bei uns in Deutschland nur im privaten Rahmen vorkam, ausleben konnte. Ich weiß noch, dass ich mich in den ersten Tagen immer überrascht umgedreht habe, wenn ich Passanten Russisch sprechen hören habe. Das war auch ein spezieller Reiz.

„Im ersten Jahr hatte ich arge Sehnsucht, bis zum Heulen“

Aber ich wusste ja gar nicht, was auf mich zukommt. Im ersten Jahr hatte ich arge Sehnsucht, bis zum Heulen. Denn nun fingen die ganzen Schwierigkeiten an. Ich hatte das erste Mal mit den russischen Behörden zu tun, weil ich meine Staatsbürgerschaft neu beantragen musste. Das war damals noch viel schlimmer als heute. Man musste über Bekannte erst einmal die Adresse des Amtes in Erfahrung bringen. Anrufen ging nicht, also ist man auf gut Glück hingefahren und stand dann natürlich vor verschlossenen Türen. Die Öffnungszeiten konnte man sich nur vor Ort abschreiben, was aber keine Garantie dafür war, dass nicht beim nächsten Mal ein handgeschriebener Zettel mit neuen Öffnungszeiten an der Tür klebte.

An der Uni, wo ich inzwischen studierte, herrschte ein autoritärer Führungsstil nach dem Motto: Ich bin der Lehrer und ihr sollt einfach nur mitschreiben, egal, ob ihr etwas verstanden habt oder nicht. Ich war aus der Schule in Deutschland einen ganz anderen Umgang und selbstständiges Arbeiten gewohnt. Hier wurde die Anwesenheit bei den Vorlesungen kontrolliert und man sollte hinterher die Hefte zur Kontrolle abgeben. Ich kam mir vor wie im falschen Film.

Ich war immer technikbegeistert und hatte mir gut vorstellen können, einmal Ingenieur zu werden. Aber über dieser Pädagogik ist mir der Wunsch gründlich vergangen. Die Bedingungen im Wohnheim spotteten ebenfalls jeder Beschreibung. Wir hatten eine Toilette und eine Dusche für 40 Zimmer, wobei sich die Dusche in einem anderen Gebäude befand, so dass man im Winter bei Eis und Schnee über den Hof musste.

Aber so ohne Weiteres aufgeben wollte ich auch nicht. Wer A sagt, der muss auch B sagen. Und irgendwie hat sich nach und nach alles eingespielt. Dann habe ich auch noch meine erste Freundin kennengelernt, da kam es schon wegen dieser Beziehung nicht in Frage, die Segel zu streichen.

„Mir sind beide Länder und beide Kulturen nah“

Heute bin ich zweifacher Vater.  Unser Sohn Michael ist drei Jahre alt und geht in den deutschen Kindergarten in Tomsk, Max ist erst zehn Monate. Ich rede mit den Kindern zu Hause Deutsch. Nach außen stelle ich unser Deutschsein nicht in den Vordergrund. Wir leben einfach unser Leben. Mir sind beide Länder und beide Kulturen nah.

Aber jetzt kommen so langsam die Gedanken: Ich bin Alleinverdiener, muss für die Familie sorgen. Doch gegen Eventualitäten sind wir überhaupt nicht abgesichert. Was ist denn zum Beispiel, wenn mir mal etwas passiert?

„Ich möchte nicht, dass unsere Kinder in Russland zur Schule gehen“

Die Sicherheit und das Rechtssystem sind zwei maßgebliche Beweggründe, um nach Deutschland zurückzukehren. Außerdem möchte ich nicht, dass unsere Kinder in Russland zur Schule gehen. An das russische Bildungssystem glaube ich nicht mehr.

Die Kinder sollen einmal einen Beruf wählen können, der ihren Wünschen und Fähigkeiten entspricht. Und nicht wie in Russland dorthin gehen müssen, wo das Geld ist, weil die Bezahlung in vielen anderen Berufen nur für das Nötigste reicht. Ich hatte im Restaurant 30 Köche unter mir und habe gesehen, was die für ein Leben führen. Und dabei waren wir ein sehr erfolgreicher Betrieb. Was also, wenn einer meiner Söhne hier Koch werden wollte? Dann müsste ich ihm ja von vornherein davon abraten.

Ich schließe nicht aus, in Deutschland noch einmal eine Ausbildung zu absolvieren, um mich als Sprachlehrer weiterzuqualifzieren. In Russland geht vieles auch ohne Ausbildung. Wenn du etwas machen willst, dann machst du es einfach. In Zweifelsfall erklärt man sich selbst zum Fachmann.

In Deutschland wäre beispielsweise die Sache mit meiner Bäckerei nie möglich gewesen. Da hätten mich schon die Behörden kaputtgemacht. Die Einstiegshürden sind dort ein ganzes Stück höher. In der Bäckerei haben wir zweieinhalb Jahre tolle Produkte hergestellt. Nur verdient habe ich daran nichts, als Geschäftsmodell war der Laden von Anfang an nicht überlebensfähig. Ich wusste damals einfach vieles noch nicht, was ich heute weiß, sonst hätte ich vielleicht einen Ausweg gefunden. Und als dann unser erster Sohn zur Welt kam, musste ein Umbruch her. Ich brauchte ein verlässliches Einkommen. Trotzdem ist es schön, dass ich das damals machen konnte.

Jetzt habe ich mir zum Ziel gesetzt, dass mein älterer Sohn schon in Deutschland eingeschult wird. Das gibt uns noch zwei, drei Jahre Zeit, um unseren Umzug gründlich vorzubereiten.

 

„Deutscher mit Vorteil“: Als Spätaussiedler in Deutschland

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