Hart und weich zugleich: Vom Nahkampf mit der russischen Sprache

Russischlerner brauchen vor allem eines: Ausdauer. Diese Erfahrung hat Matthias Frey als Deutscher im sibirischen Tomsk gemacht. In der MDZ schreibt er diesmal über seine Abenteuer mit der rus­sischen Sprache.

Um Ausländern größeres Rätselraten zu ersparen, haben in Russland immer mehr Wegweiser eine englische Umschrift, so wie hier in der Moskauer Metro. (Foto: Tino Künzel)

„Lerne Russisch in nur 30 Tagen!“ Wer naiv genug ist, um an solche Werbeversprechen zu glauben, verdient es nicht anders, als bei den einschlägigen Sprach-Apps das Probe-Abo mit anschließender Abzock-Falle bezahlen zu müssen. Die 30 Tage reichen allenfalls, um das kyrillische Alphabet mit Druck- und Schreibschriftvariante ausreichend zu beherrschen und ein paar Brocken zu stammeln.

„Frohe Weihnachten“ als Zungenbrecher

Ich muss zugeben, dass auch ich als Sprachlehrer mir das Ganze leichter vorgestellt hatte. Als ich mit meiner Frau, einer Russin, wettete, dass ich nach einem halben Jahr fließend Russisch sprechen würde, lächelte sie nur, wohl wissend, dass das sehr unrealistisch ist. Die ersten Begegnungen in den Geschäften oder auf der Straße waren frustrierend und mein Anspruch an mich sank von Monat zu Monat. Am Anfang saß ich bei Treffen mit der Familie oder mit Freunden wie Falschgeld daneben. Bald nach unserer Ankunft in Tomsk Ende 2019 bin ich kläglich daran gescheitert, meiner Schwiegermutter „Frohe Weihnachten!“ zu wünschen, also „Stschastliwogo Roschdestwa!“. Da ich das nicht über die Lippen brachte, wartete ich einfach ab, bis es alle gesagt hatten, und hängte ein „Ich auch“ auf Russisch an. Das habe ich gerade noch geschafft.

Russisch soll Platz 3 unter den schwierigsten Sprachen belegen, habe ich gelesen. Hart, aber auch irgendwie beruhigend. Deshalb also wirkte zu Beginn selbst ein gewöhnlicher Satz auf mich wie ein Zungenbrecher. Dabei scheinen viele Dinge durchaus einfacher zu sein als im Deutschen oder in anderen Sprachen. Es gibt keine Artikel und nur drei Zeiten (Vergangenheit, Präsens und Zukunft), wobei die Vergangenheit einfach zu bilden ist. Für die Endungen muss man aber dann doch wissen, ob das Nomen männlich, weiblich oder sächlich ist, belebt oder unbelebt ist. Und für die Zeiten, ob eine unvollendete oder vollendete Handlung beschrieben wird.

Matthias Frey schreibt in seiner MDZ-Kolumne über Land und Leute in Russland.

Die Grammatik ist ein Fluch mit sechs Fällen, schier unend­lichen Prä- und Suffixen und regelmäßigen Unregelmäßigkeiten. Bei jeder Bestellung musste ich mir vorher noch einmal die Regeln für die Zahlen vergegenwärtigen und hab es dann doch wieder falsch gemacht. Auf das Zahlwort 1 folgt nämlich der Nominativ, nach der 2, 3 und 4 der Genitiv Singular und ab der 5 der Genitiv Plural. Wer soll sich das alles merken?

Zumindest in Sibirien führt allerdings kein Weg dran vorbei, Russisch zu lernen. Auf die Frage „Do you speak English?“ kommt meist ein kategorisches Njet. Man schätzt, dass ca. fünf Prozent der Russen Englisch können. Für Tomsk kann ich das unterschreiben.

Deutsche Wörter, falsche Freunde

Was mir die Aufgabe ein wenig erleichterte, waren viele internationale Wörter, die in die russische Sprache Eingang gefunden haben, wie Theater, Kino oder Museum. Auch wer Französisch kann, stößt auf vertraute Lehnwörter wie bagage, magasin oder plage. Nicht zuletzt dank Katharina der Großen sind um die 500 deutsche Wörter nach Russland eingewandert. Germanismen wie Spinat, Rucksack oder Landschaft halfen mir im Gespräch, zumindest zu verstehen, ob es ums Abendessen oder die Ferien geht.

Aber gleichzeitig musste ich mich vor den falschen Freunden hüten: Butterbrot ist im Gegensatz zum Deutschen ein belegtes Brot, Kotelett bedeutet Frikadelle, Streusel wiederum Obstkuchen und Kuchen heißt Keks. Nur Strudel ist tatsächlich Strudel.

Verwirrend ist auch die Sache mit den Vornamen. Beim Volleyball schrie man mal Alex, mal Sascha, mal Sanja. Es hat ein paar Wochen gebraucht, bis ich checkte, dass das ein und derselbe Typ war, nämlich Alexander. Und dass es zu jedem Namen mehrere Rufnamen gibt.

Eine harte Sprache, die weich ist

Eigentlich dachte ich, das Russische sei eine harte Sprache, aber sie klingt ganz weich und schön. Ein weiches und gleichzeitig witziges Wort ist für mich saschtschischtschajuschtschij, was so viel wie beschützend bedeutet und nach ein oder zwei Wodkas sicher noch besser ausgesprochen werden kann. Wodka ist übrigens eine Verkleinerungsform von Woda – also Wasser. Wie in der Schweiz oder in Süddeutschland werden auch im Russischen viele Wörter verniedlicht. Wodka ist wohl das weltbekannteste Diminutiv geworden.

Vorsicht geboten ist bei ähnlich klingenden Wörtern: Platschu kann, je nachdem ob auf dem a oder auf dem u betont, „Ich weine“ oder „Ich bezahle“ bedeuten. Ebenso verhält es sich mit pisat, was je nach Betonung als Schreiben, aber auch als Pinkeln verstanden werden kann. Man stelle sich die Situationen vor, in denen man das falsch betont. Interessant fand ich auch das Wort Anschlag, was man im Russischen gebraucht, wenn das Haus voll mit Menschen ist. Und man trägt bei mehreren Kleiderschichten keinen Zwiebellook, sondern passend zur russischen Küche Krautlook.

Die Wette gegen meine Frau habe ich übrigens verloren. Mittlerweile spreche ich zwar besser Russisch als vor einem Jahr, doch so ganz konnte ich den gordischen Knoten in meiner Zunge noch nicht lösen. Hier gilt wohl wie überall: Übung macht den Meister. Oder wie die Russen viel schöner sagen: Wiederholung ist die Mutter des Lernens.

Letztendlich habe ich ohnehin keine andere Wahl – unsere Kinder wachsen mit Russisch auf. Und wenn ich verstehen will, was die so auf dem Herzen haben, muss ich wohl oder übel noch weiterbüffeln.

Mark Twain schrieb einmal zum Thema Sprachenlernen: Englisch kann man in drei Monaten erlernen, Französisch in drei Jahren und Deutsch in dreißig Jahren. Wie lange braucht man wohl für das Russische? Vielleicht ein ganzes Leben? Ich weiß jetzt: auf jeden Fall länger als 30 Tage.

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