Fußball vor leeren Tribünen: So laut kann stiller Protest sein

Dass in Russland Tausende Unzufriedene auf die Straße gehen, hat es lange nicht mehr gegeben. Doch wenn Tausende Unzufriedene zu Hause bleiben, kann das auch ein deutliches Zeichen sein. Das zeigt sich gerade am Besuch in den Stadien der russischen Premier Liga, wo ein Antirekord den nächsten jagt.

Das Heimspiel von Spartak Moskau gegen Ural Jekaterinburg am 4. März fand vor äußerst bescheidener Kulisse statt. (Foto: Spartak Moskau)

207 Zuschauer kamen am 11. März zum Spiel von Torpedo Moskau gegen Ural Jekaterinburg. Wohlgemerkt, die beiden Klubs kicken nicht etwa in der Sechst- oder Siebt­klassigkeit, sondern in der höchsten russischen Spielklasse, der Premier Liga (RPL). „Da ist ja manche Hochzeit besser besucht“, meinten Spötter im Internet.

An den bisher drei Spieltagen der RPL nach der Winterpause wurden an den jeweils acht Spielorten zweimal dreistellige und nur viermal fünfstellige Zuschauerzahlen verzeichnet. Am 18. Spieltag wies die Statistik insgesamt 60.641 Zuschauer aus, ein bitterer Durchschnitt von 7580 pro Spiel. 49.537 (6192) waren es am 19. Spieltag und 40.045 (5005) am 20. Spieltag. Die gelinde gesagt halbleeren Stadien sind dieser Tage das beherrschende Thema im russischen Fußball.

Sinn und Unsinn der Fan ID

Dieses Desaster kommt dabei nicht überraschend, es ist eines mit Ansage. Die Vorgeschichte: Im Sommer 2022 ist in Russland ein Gesetz (um genau zu sein: eine Änderung im Gesetz über Sport und Körperkultur) in Kraft getreten, das für den Ticketkauf zunächst den Erwerb einer sogenannten Fan ID zur Voraussetzung macht. Das Vorhaben soll angeblich der Sicherheit und Familienfreundlichkeit im Stadion dienen. Verwiesen wird auf positive Erfahrungen beim Confed Cup 2017 und der Fußball-WM 2018, als die Fan ID Ausländern das Visum ersetzte und gleichzeitig zur kostenlosen Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel berechtigte.

Der Mehrwert des Identitätsnachweises bei einer nationalen Meisterschaft ist alles andere als offenkundig. Spontane Stadionbesuche sind damit ausgeschlossen beziehungsweise daran geknüpft, dass der Besucher bereits einen Fanpass hat. Dieser kann online beantragt werden, zur Verifizierung ist aber in jedem Fall ein Gang ins Multifunktionszentrum – eine Art Bürgeramt – unerlässlich. Gerade Gelegenheitszuschauer scheuen diesen Aufwand.

Doch nicht sie, sondern die Treuesten der Treuen sind gegen die Fan ID Sturm gelaufen, seit die Pläne bekannt wurden. Der harte Kern der Fans lehnt sie nahezu geschlossen ab. Exzesse in den Stadien oder außerhalb hat es schon lange nicht mehr gegeben. Und wenn es in jüngerer Vergangenheit vereinzelt doch mal zu Zwischenfällen kam, dann stand anschließend regelmäßig die Polizei in der Kritik, dabei eine unrühmliche Rolle gespielt zu haben.

Lange taten die Fans im Stadion kund, was sie von der Fan ID halten. Inzwischen bleiben sie einfach zu Hause. (Foto: ZSKA Moskau)

Fans bieten dem Staat die Stirn

Die Fans halten Sorgen um die Sicherheit daher für ein Scheinargument. Als eigentliche Absicht hinter der Neuerung sehen sie vielmehr noch mehr Überwachung und Kontrolle seitens des Staates. Der hat damit einen Hebel in der Hand, nur noch brave Bürger ins Stadion zu lassen und missliebige Zuschauer auszusperren, indem Anträge ohne Angabe von Gründen abschlägig beschieden werden und es keine Handhabe dagegen gibt. Die Fanvereinigung „Landscrona“ von Meister Zenit St. Petersburg bezeichnete die Neuerung im vergangenen Jahr als „intransparent, repressiv und unnötig“.

Doch an Regierung und Staatsduma prallte die Meinung der Fankurve ab. Als dann Ende 2021 auch noch Präsident Putin seine Unterschrift unter das Gesetz setzte, reagierten die ersten Fanklubs mit den Füßen: Sie erklärten einen Stadionboykott, bis das Gesetz zurückgenommen werde. Nach und nach schlossen sich dem Protest alle anderen Fanvereinigungen an, mit Ausnahme der Fans von Terek Grosny aus Tschetschenien, wo solche Aufmüpfigkeit undenkbar ist.

In der ersten Saisonhälfte war die Fan ID zunächst in fünf der 16 RPL-Stadien vorgeschrieben. Seit dem Frühjahr gilt sie überall. Und nun, da auch die größten und beliebtesten Klubs davon betroffen sind, wird das ganze Ausmaß der Misere sichtbar. Die Zuschauerzahlen sind auf breiter Front abgestürzt. Neben den Stimmungsmachern aus der Kurve bleibt auch ein Großteil des sonstigen Publikums weg.

WM-Stadien mit Mini-Kulisse

Bei Spartak Moskau, dessen Stadion 44.571 Plätze hat, wurden im ersten Spiel nach der Winterpause gegen Ural Jekaterinburg 4281 Zuschauer gezählt, so wenige wie seit 2004 nicht mehr. Zenit St. Petersburg mit seinem 63.025 Zuschauer fassenden Stadion brachte es in den beiden Heimspielen des Frühjahrs auf einen Schnitt von 17.835 Besuchern, ziemlich genau die Hälfte des mittleren Besuchs vom Herbst. Die WM-Arenen von Rostow am Don (45.415 Plätze) und Jekaterinburg (23.000 Plätze), wo die Fan ID bereits die gesamte Saison obligatorisch ist, sind mit durchschnittlich 6140 beziehungsweise 4234 Zuschauern äußerst spärlich gefüllt.

Nun konnte sich die Premier Liga freilich auch früher nicht unbedingt der vollsten Stadien in Europa rühmen. Doch der Unterschied etwa zur Saison 2018/19 – der letzten vor den Covid-Beschränkungen und der ersten nach der WM im eigenen Land – sind tatsächlich frappierend. Damals kamen im Schnitt 48.244 Zuschauer zu Zenit St. Petersburg, 30.941 zu Spartak Moskau, 31.034 zum FK Rostow am Don und 15.887 zu Ural Jekaterinburg, um nur einige Beispiele zu nennen. Selbst in der laufenden Saison noch meldete Zenit am fünften Spieltag 51.174 Besucher beim 2:1 gegen ZSKA Moskau.

Die Zuschauerresonanz im Vorher-Nachher-Vergleich (Foto: Twitter/Kara Ginera)

Vergleicht man die Saison vor vier Jahren mit den aktuellen Zahlen, dann ist die Stadionauslastung etwa bei Spartak Moskau um 85 Prozent eingebrochen, beim FK Rostow um 80 Prozent und bei Zenit St. Petersburg immerhin um 63 Prozent. Das Sportportal Sports.ru schreibt, Klubs wie Zenit und Spartak drohten unter diesen Umständen Verluste von 400 Millionen Rubel (umgerechnet etwa fünf Millionen Euro) pro Saison.

Kein Zurück in Sicht

Doch wie fatal dieses Trauerspiel für den Fußball und die Bilanzen auch sein mag, zu einem Umdenken bei den politisch Verantwortlichen hat es nicht geführt. Dass der Gesetzgeber Konsequenzen zieht oder zumindest das Gespräch mit den Fans sucht, ist auch schwer vorstellbar. Die Klubs wiederum äußern sich meist vorsichtig, bedauern zwar die Entwicklung, aber betonen, Gesetz sei nun mal Gesetz, daran müsse man sich halten. In ihren Stadien schließen sie die oberen Ränge und sorgen damit wenigstens auf der Haupttribüne für eine halbwegs ansehnliche Zuschauerdichte.

Allerorten wird für die Fan ID geworben und vermittelt, wie einfach es ist, sie zu beantragen. Diverse Gewinnspiele mit attraktiven Hauptpreisen sollen die Leute ins Stadion locken. Teils werden auch kostenlose Tickets verteilt. Geholfen hat das bisher nicht viel. Nur im Pokal, wo die früheren Eintrittsregeln gelten, was zwar die meisten Fans nicht erweichen kann, aber immerhin viele „normale“ Zuschauer, ist das Elend nicht ganz so groß. So waren bei Zenit gegen Dynamo Moskau Mitte März 31.087 Besucher anwesend, bei Spartak gegen Jekaterinburg 9595 – das Doppelte der vorhergehenden Punktspiele.

Aus dem Sportministerium hieß es zuletzt, von einem Verzicht auf die Fan ID könne keine Rede sein. Stattdessen wurden deren positive Effekt herausgestellt. So sei der Anteil der Kinder unter den Zuschauern auf 15 bis 16 Prozent gestiegen. Das mag stimmen, ist aber kein Erfolg. Denn in absoluten Zahlen sind heute natürlich nicht mehr, sondern weniger Kinder bei den Spielen im Stadion.

Reihen bleiben geschlossen

Der Widerstand der Fans gegen die Fan ID ist derweil ungebrochen. Anfang März veröffentlichte die Fanvereinigung „Fratria“ von Spartak Moskau eine Erklärung, der Boykott gehe weiter „bis zur vollständigen Aufhebung des geltenden Gesetzes“. Hinter dieser Forderung stünden sämtliche Zusammenschlüsse von Spartak-Fans „in Moskau, Russland, den GUS-Staaten und in der ganzen Welt“. Die Einführung der Fan ID mache nicht nur das Wesen des Fanseins und die Emotionen kaputt, sondern „rechnet auch zynisch, willkürlich und unter Verletzung der Unschuldsvermutung mit jedem ab, der nicht mit den diktierten Regeln übereinstimmt“.

Mit der Fußball-WM 2018 sollte in Russland eigentlich ein Boom erzeugt werden. Der ist nun offenbar schon wieder vorbei.
Tino Künzel

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