Wegen Fan ID: Russische Fußballfans boykottieren den Fußball

Weil zum 1. Juli eine sogenannte Fan ID für den Zutritt zu den Stadien der Premier-Liga eingeführt wurde, bleibt der harte Kern der Anhängerschaft den Spielen künftig fern. Den Klubs gehen damit ausgerechnet die größten Stimmungsmacher verloren. Mit den leeren Tribünen drohen Milliardenverluste.

Die ZSKA-Fangruppierung „Men in Black“ hat schon mal simuliert, wie der Support künftig aussieht. (Foto: Telegram/ljudi v tschjornom

Nicht, dass Sie es vor lauter Vorfreude kaum noch erwarten könnten, aber es ist nun einmal eine Tatsache: Am 15. Juli beginnt die neue Meisterschafts-Saison in der russischen Premier-Liga (RPL). Anderswo wird das kaum zur Kenntnis genommen werden, das Interesse am Fußball zwischen Murmansk und Wladiwostok hält sich im Ausland traditionell in Grenzen. International auf sich aufmerksam zu machen, fällt den Klubs um Zenit, Spartak und Dynamo aktuell aber noch mal schwerer: Sie wurden von den UEFA-Wettbewerben ausgeschlossen. Seit dem Frühjahr haben zudem viele Ausländer die Liga verlassen, darunter die deutschen Trainer Daniel Farke (jetzt Borussia Mönchengladbach) und Sandro Schwarz (Hertha BSC).

Neben der geografischen Distanz war da immer auch eine mentale. Und sie ist zuletzt nicht nur nicht kleiner, sondern größer geworden. Wer früher nicht hingeschaut hat, der schaut jetzt weg. Unter diesen Vorzeichen macht die RPL erst mal weiter und lässt hin und wieder sogar aufhorchen. Das Pokalfinale fand Ende Mai vor über 69.000 Zuschauern statt. Als Zenit St. Petersburg Anfang Juli ein Testspiel gegen Roter Stern Belgrad in Sotschi bestritt, wollten das immerhin 30.000 zahlende Zuschauer sehen. Davor hatte Dynamo Moskau die populäre Blogger-Auswahl Amkal vor 15.000   Besuchern empfangen. Dass Eishockey-Star und Dynamo-Fan Alexander Owetschkin seine Farben als Kapitän aufs Feld führte und trotz seiner über 100 Kilo sogar ein Tor erzielte, reichte für einige Tage Gesprächsstoff.

Stimmungskiller Fan ID

Doch die kommende Saison steht unter keinem guten Stern. Nicht genug damit, dass der Fußball eine Normalität vorgaukelt, die außerhalb des Stadions nicht existiert, rebellieren nun auch noch die Treuesten der Treuen. Die großen Fanklubs nahezu aller 16 RPL-Teams lehnen die per 1.  Juli eingeführte sogenannte Fan ID ab. Sie ist fortan Voraussetzung für den Ticket­kauf und Stadionbesuch, zunächst in fünf Stadien, ab der Rückrunde dann auch in allen übrigen. Speziell die Ultras, der aktivste, kreativste und lautstärkste Teil der Anhängerschaft, weigern sich, diesen Ausweis zu erwerben, und wollen den Spielen fernbleiben, bis das betreffende Gesetz zurückgenommen wird. Auch innerhalb der Stadien wird also nichts mehr so sein wie vorher.

Die Fan ID kann seit 4. Juli online im Dienstleistungsportal Gosuslugi beantragt werden. Dafür sind einige persönliche Angaben und ein Foto beizubringen. Zum Zwecke der Identifikation müssen Antragsteller aber auch auf dem Bürger­amt („Multifunktionszentrum“) vorstellig werden. Die Einführung der Fan ID war gegen alle Kritik von der russischen Regierung vorangetrieben worden. Die Staatsduma billigte das Gesetz im Dezember 2021. Kurz vor dem Jahreswechsel wurde es auch von Präsident Putin unterschrieben.

Schon bei der WM im Einsatz

Die Maßnahme solle die Stadien sicherer und komfortabler und damit auch familienfreundlicher machen, heißt es. Verwiesen wird auf positive Erfahrungen mit der Fan ID bei großen Turnieren in der jüngeren Vergangenheit. Erstmals kam sie beim Confed Cup 2017 und dann auch bei der Fußball-WM in Russland ein Jahr später zum Einsatz. Damals ersetzte sie Ausländern das Visum und diente auch als kostenlose Fahrkarte im Nah- und Fernverkehr.

Doch die Fans sehen in dem Fanpass nur ein weiteres Instrument der Kontrolle seitens des Staates und laufen schon seit Jahren dagegen Sturm. Bei der EM 2020, als St. Petersburg einer der Spiel­orte war, mussten viele Russen die Erfahrung machen, dass ihre Anträge aus unerfindlichen Gründen abgelehnt wurden. Zu irgendwelchen Auskünften sind die Behörden nicht verpflichtet, negative Bescheide können laut dem neuen Gesetz auch dann erlassen werden, wenn Informationen über potenziell gesetzwidrige Handlungen in der Zukunft vorliegen. Damit werde die Unschuldsvermutung außer Kraft gesetzt, argumentieren Kritiker, die willkürliche Entscheidungen gegen missliebige Bürger befürchten. Dass damit die Sicherheit verbessert werde, sei nur vorgeschoben. Die modernen Stadien mit ihrer Überwachungstechnik erlaubten es auch so, Randalierer zu identifizieren. Außerdem habe der russische Fußball kein Gewaltproblem.

„Intransparent, repressiv und unnötig“

Bereits vor Monaten haben die Fans von 15 Erstligisten Stellungnahmen veröffentlicht, in denen sie die Einstellung ihres Supports ankündigten. Nur die Anhänger von Achmat Grosny aus Tsche­tschenien äußerten sich nicht. In einem Statement der Fanvereinigung „Landscrona“ von Zenit St. Petersburg werden die beschlossenen Vorschriften als „intransparent, repressiv und unnötig“ bezeichnet. Die Fans des Moskauer Vorortklubs FC Chimki schrieben: „Fans sind keine Verbrecher, das Stadion ist kein Gefängnis.“ Spartak Moskau muss schon seit der Rückrunde der vorigen Saison ohne seine Hardcore-Fans auskommen. Viele andere verzichten ab jetzt auf den Stadionbesuch oder zumindest überall dort, wo eine Fan ID verlangt wird. Fans, die sich der neuen Regelung beugen wollen, droht teilweise der Ausschluss aus ihren Fanklubs.

Vereine wie ZSKA Moskau haben mit Verständnis auf die Position ihrer Fans reagiert. Zenit St. Petersburg schätzt die eigenen Verluste wegen ausbleibender Einnahmen auf 1 bis 1,5 Milliarden Rubel und die der gesamten Liga auf Dutzende Milliarden, zitiert das Portal „RB Sport“ aus einem Brief, der unter anderem an das Sportministerium gerichtet war. Weil neben den eingefleischten Fans auch spontane Besucher künftig außen vor sind, wird mit spürbar sinkenden Zuschauerzahlen gerechnet. Dabei waren die schon bisher niedriger als in der Zweiten Bundesliga. Am letzten Spieltag der zurückliegenden Saison lag der Durchschnitt bei 17.300.

Tino Künzel 

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