Ein Tag gegen das Vergessen

Es war eine Zeit, in der das Undenkbare denkbar wurde. Auf dem Gedenkfriedhof Lewaschowo in St. Petersburg sind die Spuren des Grauens, das unter Stalin viele Tausende das Leben kostete, gegenwärtig. Am 28. August machten sich Russlanddeutsche dorthin auf – so wie jedes Jahr an diesem Tag.

Der Gedenkstein für die deutschen Opfer auf dem Friedhof Lewaschowo

Ein hoher Bretterzaun, Stacheldraht, dahinter ein Wald mit einigen gepflegten Wegen. Am Eingang befindet sich eine Glocke, deren Klang von Zeit zu Zeit ertönt. Eine Gruppe von Besuchern läuft mit Nelken in der Hand den Hauptweg entlang. Die Blumen werden auf einem Gedenkstein vor einem Kreuz abgelegt. Es sind so viele, dass die Inschrift des Denkmals kaum noch zu lesen ist. „An Deutsche Russlands: Ihr seid immer mit uns“, steht dort geschrieben.

Auf dem Gedenkfriedhof Lewaschowo am nördlichen Stadtrand von St. Petersburg sind mindestens 19.000 Opfer politischer Verfolgung in der Sowjetunion begraben. Andere Quellen sprechen von 45.000 Menschen, die hier zwischen 1937 und 1954 in Massengräbern verscharrt wurden. Dass die Zahlen so weit auseinanderliegen, zeigt, wie schwierig es ist, genaue Angaben zu machen. Das gilt auch für die Deutschen unter den Opfern. 166 sind es offiziell. Aber Irina Tscherkasjanowa meint, dass das eigentlich nicht stimmen kann. „Wenn wir die Zahl der zum Tode Verurteilten vergleichen, deren Namen wir in den Listen finden können, dann gab es viele weitere Opfer“, sagt die Historikerin.

„Dürfen die Tragödien nicht vergessen“

Tscherkasjanowa hat der Gruppe bereits im Bus eine historische Einführung gegeben. Wie jedes Jahr am 28. August, dem Gedenktag an die Deportation der Russlanddeutschen 1941, veranstaltet die Deutsche Gesellschaft St.  Petersburg mit Unterstützung des Deutsch-Russischen Begegnungszentrums die Fahrt nach Lewaschowo, um an Verfolgung und Vertreibung zu erinnern. Gekommen sind Russlanddeutsche, Vertreter regionaler deutscher Organisationen und andere St. Petersburger. „Drei Generationen meiner Vorfahren haben viel Leid erlebt: Revolu­tionen, Repressalien, Vertreibung, zwei Weltkriege, die Belagerung von Leningrad“, erzählt Constantin Heinrich Bein. Seine deutschstämmige Familie lebt in achter Generation in St. Petersburg. „Wir dürfen die Tragödien der Vergangenheit und den massenhaften Tod unschuldiger Menschen nicht vergessen, sonst könnte sich Ähnliches in Zukunft wiederholen“, sagt er.

Die Russlanddeutsche Valentina Korobowa hat als Kind die Leningrader Blockade überlebt. „Da mein deutscher Nachname russifiziert war, wurde ich nicht vertrieben oder verfolgt“, sagt sie. Wie viele andere kommt auch Korobowa Jahr für Jahr auf den Friedhof, um der Opfer zu gedenken. „Das ist sehr wichtig für mich, auch wenn keine Verwandten von mir hier liegen.“

Es wird gemeinsam gebetet …
… und darüber gesprochen, was die Menschen auf dem Herzen haben.

Kerzen werden angezündet. Nach einer Schweigeminute folgt ein Gedenkgebet in russischer und deutscher Sprache. Dann sprechen alle, die das Wort ergreifen wollen. Nicht nur über den Tod und die Verstorbenen, sondern auch über das Leben. Über die deutsche Gemeinschaft, die sie verbindet und die so viel Freude spendet.

Bis 1989 geheimer Friedhof

Im Brachland von Lewaschowo errichtete der KGB einst eine elf Hektar große Grabanlage. Wer dort beerdigt wurde, war keines natürlichen Todes gestorben. Die Gräber wurden mit Meeressand bedeckt. Was zwischen den hohen Bäumen geschah, war bis 1989 geheim. Erst Aktivisten der inzwischen aufgelösten Menschenrechtsorganisation „Memorial“ (von der russischen Justiz als „ausländischer Agent“ eingestuft) entdeckten die Anlage. Piloten eines nahegelegenen Flugplatzes hatten ihnen von entsprechenden Beobachtungen aus der Luft berichtet. Nach zahlreichen Appellen an die Behörden wurde der Zugang zu dem Gelände geöffnet. 

1998 stellte die Deutsche Gesellschaft ein von dem Russlanddeutschen Witold Muratow entworfenes Gedenkkreuz auf dem Friedhof auf. Auch der deutsche Konsul in St. Petersburg und die lutherische Kirche waren beteiligt. 2010 wurde der Gedenkstein eingeweiht. Das Denkmal ist ein wichtiger Ort des Gedenkens an die deutschen Opfer von Verfolgung und Vertreibung.

Nur ein Randthema

Am 28. August 1941 ordnete das Präsidium des Obersten Sowjets der Sowjetunion die Umsiedlung der Wolgadeutschen nach Sibirien und Kasachstan an. Tausende wurden ihrer gewohnten Lebensweise, ihres Zuhauses, ihrer Familie, Freiheit und Bürgerrechte beraubt. Darüber wird in Russland heute nicht viel gesprochen. Sie habe schon etliche Geschichtslehrbücher für die Schulen gesehen, sagt Gerta Krylowa, die Vorsitzende der Deutschen Gesellschaft in St.  Petersburg. „In keinem habe ich irgendwelche Informationen zum 28. August gefunden.“

Jekaterina Janowskaja (Text + Fotos)

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