Ein Jahr in Moskau oder Wie ich mich in Deutschland verliebte

Es ist gar nicht so einfach, die eigenen Gedanken zu kontrollieren. Und erst die Gefühle! Jedenfalls hatte Johann Strauch nicht im Geringsten damit gerechnet, was ihm dann in Moskau widerfuhr. In der Ferne war ihm Deutschland plötzlich näher als je zuvor.

In Moskau gibt es viel zu entdecken, warum nicht auch die Liebe zu Deutschland? (Foto: Tino Künzel)

Hätten Sie mich noch vor einem Jahr gefragt, welches Land ich als meine Heimat ansehe, dann hätte ich ohne zu zögern geantwortet: „Das Land von Dostojewski, Tschaikowski und Tolstoi.“ Russland also. Und das, obwohl ich fast mein gesamtes bisheriges Leben in Deutschland verbracht habe. Aber irgendwie war mir Michail Scholochow immer näher als Thomas Mann. An die Stimme von Muslim Magomajews kam kein Heino heran. Und die Filme von Alexej Balabanow packten mich einfach mehr als die von Bernd Eichinger oder Werner Herzog. Wer hätte gedacht, dass ausgerechnet eine Auswanderung aus Deutschland einen Perspektivwechsel bewirken könnte?

Europäischer Lebensstandard?

Vor einem Jahr bin ich aus persönlichen Gründen nach Moskau gezogen. Vor mir breitete sich eine Megametropole aus, deren Einwohnerzahl offiziell bei über 13 Millionen liegt. Von vielen Russen wird Moskau als Staat im Staate bezeichnet. Zu groß seien die Unterschiede zwischen der Hauptstadt und dem Rest des Landes. Man sagt Moskau deshalb oft einen europäischen Lebensstandard nach. Doch diese Aussage würde ich nach einem Jahr so nicht unterschreiben. Denn der Service und die Möglichkeiten, die Moskau bietet, übertreffen sogar vieles, was man aus Europa kennt.

Moskau ist ein äußerst bequemer Ort zum Leben, fast schon zu bequem. Wenn man sich schlau – oder, je nach Sichtweise, dumm – anstellt, muss man das Haus quasi gar nicht verlassen. Was auch immer man braucht, kann man sich mehr oder weniger rund um die Uhr liefern lassen. Seien es nun Haushaltwaren, Lebensmittel oder Alltagsschnickschnack – wenn das gewünschte Produkt verfügbar ist, dann gibt es auch einen Kurier dazu, der die Bestellung vorbeibringt, so dass man nie länger warten muss.

Doch Moskau ist nicht nur ein Konsumparadies. Die zweitgrößte Stadt Europas wartet auch mit einem kulturellen Angebot auf, das seinesgleichen sucht. Theater? Oper? Kunstausstellungen? Die Auswahl ist schier unerschöpflich. 

Auch in puncto Selbstverwirklichung kommt man auf seine Kosten. Du willst eine neue Sprache erlernen? Hier hast du einen Kurs. Du würdest gern einen schwarzen Gürtel in einer beliebigen asiatischen Kampfkunst erlangen? Auch dafür gibt es einen Kurs. Meditieren, Malen, Musizieren? Alles kein Problem. Man muss nur wollen.

Unglaublich: Heimweh

Doch frei nach dem Motto „Es ist nicht alles Gold, was glänzt“, flaute meine anfängliche Begeisterung mit der Zeit etwas ab. Hinter der lockenden Fassade aus unterschiedlichsten Waren und Dienstleistungen schimmerte ein schemenhaftes, schwer fassbares Gefühl durch. Was versuchte mir mein Bewusstsein da mitzuteilen?

„Denk ich an Deutschland in der Nacht, dann bin ich um den Schlaf gebracht.“ Im Gegensatz zu Heinrich Heine waren meine Schlafstörungen nicht allzu gravierend und hingen in erster Linie mit den zahlreichen Baustellen vor meinem Fenster zusammen.

Doch ich fing in der Tat immer öfter an, an Deutschland zu denken. Ich dachte an die engen Gassen deutscher Altstädte, wo jeder Pflasterstein eine fesselnde Geschichte aus seiner jahrhundertelangen Existenz erzählen kann. Nostalgisch flackerten in meinem Gedächtnis die Erinnerungen an Fachwerkhäuser mit ihren knirschenden Holzdielen auf. In meinem Kopf waren plötzlich Gedanken über die zahlreichen Dorfkirchen und Kathedralen, Kirmessen und sogar den Kreisligafußball präsent. Ich stocherte in meiner Seele herum und kam zum einzig richtigen Schluss: Es war Heimweh. Unglaublich. Dabei befand ich mich doch daheim.

Distanz schafft Nähe

Nun empfand ich also in Russland lebend gegenüber Deutschland ähnliche Gefühle wie früher in Deutschland gegenüber Russland. Das erste Mal in meinem Leben fand ich Gefallen an deutscher Musik (Deutschrap ausgenommen) und hörte tatsächlich Udo Lindenberg und Rammstein rauf und runter. Ich beschaffte mir deutsche Literatur (ja, auch sie ist in Moskau verfügbar) und verschlang Werke, um die ich in meiner Schulzeit einen großen Bogen gemacht hatte, selbst wenn es sich um Pflichtlektüre handelte. Kennt die moderne Psychologie bereits eine schwer auszusprechende Bezeichnung für einen derartigen Zustand?

Als Russlanddeutscher fühlt man sich gewissermaßen wie ein Kind, dessen Eltern in Scheidung leben. Man gerät unweigerlich zwischen die Fronten. Doch warum sollte man sich entscheiden müssen? Was spricht dagegen, sich beiden Kulturen zugehörig zu fühlen? Warum sollte die Erwähnung des Roten Platzes oder der Eremitage im Innern weniger warme Assoziationen auslösen als das Brandenburger Tor oder die Porta Nigra? Man kann, wie ich nach einem Jahr in Moskau festgestellt habe, mehr als eine Heimat haben.

Damit kommen wir zum Schlussplädoyer. Das Fundament meiner Persönlichkeit bleibt, bei aller Liebe, die russische Kultur. Doch auf diesem Fundament ragt ein kilometerhoher Wolkenkratzer aus Remarque, Heine, Effi Briest, den Prinzen, Homo Faber, Martin Luther, Willy Brandt, Kollegah, Harald Schmidt, Oli Kahn und zahlreichen anderen großen Deutschen und ihren Werken empor. Und nebenan stehen auf diesem russischen Fundament noch zahlreiche Mehr- und Einfamilienhäuser aus Jack London, Queen, Toto Cutugno, Jean-Paul Belmondo und vielen anderen. Doch das ist schon eine ganz andere Geschichte.

Johann Strauch kam 1997 in der russischen Großstadt Tscheljabinsk am Ural zur Welt. Ein Jahr später siedelte seine Familie nach Deutschland über. Der Russlanddeutsche wuchs in Rheinland-Pfalz auf, hat beide Staatsbürgerschaften und spricht sowohl Deutsch als auch Russisch ohne Akzent. Seit einem Jahr lebt er wieder in Russland und studiert in Moskau Übersetzen und Übersetzungswissenschaft.

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