Die wahre Welt ist absurd

Er führte einen berühmten Salon in St. Petersburg, machte sich als kompetenter Kunsthistoriker einen Namen und kämpfte als Offizier im Zweiten Weltkrieg. Dass Wsewolod Petrow aber auch ein großer Schriftsteller mit einer Vorliebe für den Surrealismus war, erkennen viele Literaturfreunde erst jetzt.

Adliger, Kunsthistoriker, Autor: Der russische Surrealist Wsewolod Petrow./Foto: soloma.today

Jeden Tag freut er sich darauf, dass die Nacht endlich anbricht. Dass er den Ofen anheizt und die Wärme genießt. Dass er die trübseligen Gedanken hinter sich lassen kann und sich frei fühlt. Denn tagsüber ist er unglücklich, da gehört er sich nicht, da friert er und fürchtet sich.

Zuflucht in der Nacht

In der kurzen Novelle „Eine Winternacht“ begegnen wir einem Mann, der mit der Realität nicht viel anfangen kann und dessen Zuflucht die Nacht ist, wo er manchmal Momente des Glücks erlebt. Bis er einmal auch nachts eine erdrückende Einsamkeit verspürt, die ihn schließlich aus der Wohnung treibt, hinaus in einen Schneesturm, der durch die Straßen zieht. Er beschließt, einen zufälligen Passanten zu sich einzuladen. Dass es eine Frau sein wird, erahnt man fast. Gemeinsam steigen sie die Treppe zu seinem Zimmer hoch, er bietet ihr Tee an und traut sich nicht, der Frau ins Gesicht zu sehen, aus Angst, dass die Magie des Augenblicks verloren geht.

Herrlich depressiv beschreibt Wsewolod Petrow seinen Protagonisten, sein Ringen mit sich selbst – eben noch von Wunschvorstellungen beflügelt, um dann gleich von der Wirklichkeit in die Knie gezwungen zu werden. Auch andere Figuren in Petrows Erzählungen scheitern an der sowjetischen Realität und ihrem Kollektivismus, sehnen sich nach der guten alten Zeit und träumen sich ihre Wunschwirklichkeit zusammen.

Surrealismus gegen Kulturpolitik

Die Erzählungen entstanden in den 1930er und 40er Jahren und kursierten lediglich als Manuskripte, die nur Menschen zu Gesicht bekamen, die der Autor persönlich kannte. Zusammen mit seinem Dichterkollegen und Vorbild Daniil Charms führte Petrow die radikale Ästhetik des Absurden in die russische Literatur ein. Die zunehmende Rigidität der offiziellen Kulturpolitik machte diese surrealistischen Autoren jedoch bald zu Außenseitern und sie entdeckten, obwohl Vertreter des Modernismus, die Werte der Vorrevolutionszeit für sich.

Obwohl sie zu ihren Lebzeiten nur Kinderliteratur und Übersetzungen publizieren konnten, war ihre Wirkung auf den Literaturbetrieb erheblich. Es grenzt an ein Wunder, dass die Texte dieses Kreises nicht verloren gingen und in den letzten Jahren sukzessive publiziert werden, auch auf Deutsch. So erschien erst 2006, knapp dreißig Jahre nach Petrows Tod seine Novelle „Manon Lescaut von Turdej“ in der Zeitschrift „Nowy Mir“ und löste in Russland eine Sensation aus. In Deutschland wurde sie von der Kritik bejubelt. Bis dahin hatte man geglaubt, Petrow (1912–1978), der als Kunsthistoriker in Sankt Petersburg einen berühmten Salon führte, in dem sich junge Dichter und Künstler trafen, habe selbst gar keine literarischen Texte hinterlassen.

Magie statt wissenschaftlichem Sozialismus

In den Erzählungen der Surrealisten prallen Traumwelten auf die Wirklichkeit und der Leser weiß nicht immer, ob ihm da die Geschichte eines Wahnsinnigen geschildert oder die Absurdität des Lebens vorgeführt wird. Während der sowjetische Realismus die Fortschritte des wissenschaftlich berechenbaren Sozialismus illustrierte, gab es in der Lebenswelt der Surrealisten wieder Magie, Träume, Irrsinn und Wunder.

Petrow hat in einem Essay, der in diesem Erzählband enthalten ist, den Gedanken seines Freundes Charms erläutert, dass „Wunder den Inhalt und den Sinn des menschlichen Lebens ausmachen. Jeder stelle sich das Wunder auf seine eigene Weise vor. Für den einen besteht es darin, ein geniales Buch zu schreiben, für den anderen darin, etwas zu erfahren oder zu sehen, das für immer sein Leben erleuchten wird, für den Dritten darin, berühmt zu werden, oder reich, oder noch irgendetwas jedweder Art, in Abhängigkeit von der Seele des Menschen.“ Ein Wunder ist es, einen Menschen zu finden, den man liebt, oder die Schönheit in den Dingen zu sehen, die einen berührt.

Nicht radikal – aber beliebt

Petrows Erzählstil ist nicht so radikal wie bei den anderen Absurdisten, er kombiniert das Surreale mit traditionellen Erzählweisen und ist vielleicht deshalb beim Publikum so beliebt. Seine Texte sind auch heute noch kraftvoll, zugänglich, faszinierend, sie haben eine zeitlose Präsenz. Die Offenheit für das Wunder zeigt sich auch in der „Winternacht“, als mitten im Schneesturm eben jene Frau auftaucht, auf die der Protagonist alle seine Sehnsüchte projiziert und wie bei Orpheus und Eurydike hat er Angst, alles zu zerstören, wenn er sie nur anblickt. Die Erzählung ist so geschrieben, dass der Leser kurzzeitig glaubt, die ganze Geschichte sei nur ein Traum, ein Fantasieren über sich selbst, eine Spiegelung der eigenen Seele. Petrow ist eine großartige Wiederentdeckung, die in den ersten Rang der russischen Literatur gehört.

Irina Kilimnik

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