Die neue Landlust

Raus aus dem Wohnblock, hinaus aufs platte Land. Während der Selbstisolation haben viele Großstädter ihre Wohnorte verlassen und sind aufs Dorf gezogen. Und manch einer hat dermaßen Gefallen am Landleben gefunden, dass er nicht mehr zurück in die Stadt möchte.

Die russische Provinz hat viel zu bieten. (Foto: YouTube/Rjschdjonnyj w Sibiri)

Als das Coronavirus im März Moskau erreichte, löste es eine kleine Völkerwanderung aus. Wer konnte, floh vor dem Virus und der Selbstisolation aus der Stadt. Bis zu eine Million Moskauer sollen es gewesen sein. Meinen Bekannten erging es nicht anders. Viele verbrachten den Frühling auf ihrer Datscha und luden teilweise noch ihre Freunde ein. Und wer keine Datscha hat, war traurig und neidisch. Spätestens dann, wenn die neuen Datscha-Bewohner Bilder und Videos von ihren Spaziergängen in der Natur und den gemütlichen Abenden im Freien schickten. Und das zu einer Zeit, in der man in Moskau das Haus nur im Ausnahmefall verlassen durfte.

Die Datscha ist traditionell der Erholungsort der Russen. Viele verbringen den ganzen Sommer in ihrem kleinen Landhaus. Die Datscha ist aber auch ein Rückzugsort in Krisenzeiten. Dem Nachrichtensender „BBC“ sagte ein ehemaliger Professor „Wir haben langjährige Erfahrung damit, in der Krise aus Moskau wegzufahren: Explodierende Häuser, Feuer, einen Blackout haben wir auf der Datscha überstanden. Wir haben es nicht ein Mal bereut“. Krisen auf der Datscha zu überstehen sei für ihn Teil einer Jahrhunderte alten Überlebenserfahrung, so der Rentner weiter.

Die Datscha ist wieder nachgefragt

Dies spürten auch die Immobilienportale. Um 53 Prozent sei die Nachfrage nach Miet-Datschas im  März gestiegen, heißt es bei Avito. Und auch richtige Häuser wurden mit Beginn der Selbstisolation verstärkt nachgefragt. Die Moskauer schienen alles zu nehmen. Hauptsache draußen und weit weg von der Hauptstadt. Das Portal „Tulskaja Pressa“ berichtet etwa von einem Mann, der überrascht und leicht verwirrt reagierte, als seine jahrelang erfolglos inserierte Datscha ohne jeglichen Komfort auf einmal auf rege Nachfrage stieß. Doch willkommen waren die Moskauer nicht überall. Im Gebiet Iwanowo verbot der Gesundheitsminister den Einheimischen, Häuser an Menschen aus der Hauptstadt zu vermieten. Und im Gebiet Rjasan waren es die Menschen selbst, die gegen die Moskauer protestierten. Sie befürchteten, dass die Großstädter das Coronavirus auch in ihrer Gegend verteilen würden. 

Mittlerweile ist die Selbstisolation aufgehoben und viele Datscha-Flüchtlinge sind wieder im Moskauer Alltag angekommen. Was bleibt, ist eine schöne Erinnerung an die ruhige Zeit auf dem Land und vielleicht das Vorhaben, mal wieder öfter und länger die Stadt zu verlassen.

Einige wollen nicht mehr in die Stadt

Doch einige haben entschieden, nicht mehr in ihr altes Leben zurückzukehren. Wie Wiktor, der während der Pandemie aus einer Millionenstadt in sein sibirisches Dorf zurückgekehrt ist. Dem Nachrichtenportal „Lenta“ erklärte er, dass ihm in seinem Heimatdorf die Seele aufgehe. Das Leben auf dem Land sei gemächlich und unabhängig, so Wiktor. Auch die durch die Krise verursachte Arbeitslosigkeit macht ihm nicht zu schaffen. Schließlich sind die Menschen in russischen Dörfern bis heute größtenteils Selbstversorger. Über sein Leben auf dem Land führt Wiktor ein Videoblog, mit dem er die Schönheit des einfachen Lebens zeigen will.

Ein Videoblog führt auch Dmitrij.  Als das Coronavirus kam, entschied sich der Fernsehregisseur, nach 20 Jahren in das Dorf seiner Kindheit zurückzukehren. Und ist damit zufrieden. Denn während draußen die Welt verrückt spielt, haben sich das Virus und die Isolation nicht auf sein Dorf ausgewirkt, erzählt er „Lenta“. Bereits nach wenigen Monaten hat das einfache und manchmal harte Landleben den Kreativen voll eingenommen. Sicher, es sei nicht so einfach, Geld zu verdienen. Wer aber körperlich arbeite, könne auf dem Dorf glücklich werden, so Dmitrij.

Der Beginn einer Trendwende?

Wiktor und Dmitrij könnten für einen neuen Trend hin zur Landlust stehen. Davon gehen zumindest einige Prognosen aus. So hat das Zentrum für Fachexpertise der Rosselchosbank bereits im April Zukunftsszenarien für ein Russland nach Corona aufgestellt. Eine mögliche Tendenz ist demnach die Desurbanisierung. Bis zu drei Millionen Russen könnten in den kommenden Jahren ihr städtisches Leben hinter sich lassen und aufs Land ziehen. Bei einer verbesserten Infrastruktur sogar noch mehr. Auch die neuen Möglichkeiten für das Homeoffice, die aktuell in der Duma diskutiert werden, könnten die Entwicklung beeinflussen. Eine verstärkte Nachfrage nach langfristigen Immobilien ist bereits jetzt zu verzeichnen.

Und für all diejenigen, die wie Wiktor und Dmitrij ihr Geld vor Ort verdienen wollen, könnten sich auch neue Perspektiven ergeben. Im Gebiet Tomsk schlossen sich beispielsweise 19 Landwirte zu einer Initiative zusammen, um Großstädter anzulocken. Vize-Gouverneur Andrej Knorr sprach sogar davon, dass die Landwirte bereit seien, Wohnungen für die neuen Dorfbewohner zur Verfügung zu stellen und sie auszubilden. Wie viele Russen wirklich in der nächsten Zeit ihr Büro oder Café gegen Acker und Stall eintauschen, wird sich zeigen. 

Daniel Säwert

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