Es gibt unterschiedliche Angaben dazu, wie viele Menschenleben die Leningrader Blockade unter der Zivilbevölkerung gekostet hat. Und alle sind sie unfassbar. Vielleicht waren es 1,1 Millionen, vielleicht auch 1,5 Millionen. 97 Prozent der Opfer seien den Hungertod gestorben, hieß es beim Nürnberger Prozess.
Valentina Korobowa wäre um ein Haar in diese grausame Statistik eingegangen. Sie war sechs Jahre alt, als Deutschland die Sowjetunion überfiel. Ein aufgewecktes, aber auch ernsthaftes Kind, das bereits lesen konnte, der Tante am anderen Ende von Russland Briefe schrieb und ganz allein Brot aus dem Laden holen durfte – solange es noch welches gab.
Die Familie bewohnte ein Zimmerchen in einer Kommunalka. Acht Quadratmeter für vier Personen. Nebenan befand sich eine Fabrik. Deshalb wurde die Gegend besonders häufig von den Deutschen bombardiert.
Valentinas Vorfahren stammten vom Lande. Doch 1933 entschied die Sowjetmacht, dass es ihnen verdächtig gut ginge. Als „Kulaken“ wurden sie enteignet und mussten in der Großstadt Leningrad praktisch noch einmal von vorn anfangen. „Wir hatten keinerlei Besitz“, erinnert sich Valentina, „keinen Schmuck, kein Porzellan.“ Nichts, was sich während der Blockade zu Geld machen ließ, um die karge Lebensmittelration aufzubessern.
Nur dank Evakuierung überlebt
Im schrecklichen ersten Kriegswinter, als jeden Monat 100.000 Menschen in der Stadt verhungerten oder erfroren, erkrankte das Mädchen an Dystrophie. Bald konnte es sich kaum noch auf den Beinen halten. Seine Rettung war im Sommer 1942 die Evakuierung aus Leningrad über die „Straße des Lebens“, einen schmalen Korridor zwischen den deutschen und den finnischen Stellungen, der die Eingeschlossenen über den Ladogasee mit der Außenwelt verband, über den Lebensmittel hinein kamen und Menschen heraus.
In einem Dorf hinter der Frontlinie wurde Valentina von Militärärzten aufgepäppelt, so dass sie sogar in die Schule gehen konnte. Als Leningrad 1944 befreit wurde, kehrte sie mit ihrer Mutter zurück, die in der Stadt Arbeit gefunden hatte. Die Spätfolgen der Krankheit spürt sie bis heute, lacht aber alle Wehwehchen mit dem Spruch weg: „Wer die Blockade überlebt hat, der ist nicht so leicht totzukriegen.“
Mit ihren inzwischen 85 Jahren steht Valentina Korobowa immer noch mit beiden Beinen im Leben. Sie ist die Vorsitzende des Klubs der deutschstämmigen Blockadekinder „Raduschje“ – ihre Großmutter war eine Deutsche. Und in letzter Zeit hört sie auch mehr Deutsch um sich herum. Denn zusammen mit anderen Einheimischen nimmt sie an Treffen mit jungen Deutschen teil, die im Rahmen des Projekts „Humanitäre Geste“ nach St. Petersburg kommen. Den offiziellen Startschuss dafür gaben die Außenminister Heiko Maas und Sergej Lawrow am 27. Januar 2019, als sich das Ende der Blockade zum 75. Mal jährte, mit einer gemeinsamen Erklärung.
„Deutsche wissen nichts über die Blockade“
Deutschland unterstützt mit der „Humanitären Geste“ zum einen die Modernisierung eines Krankenhauses für Kriegsveteranen und zum anderen deutsch-russische Begegnungen vor Ort. Um Blockaden in den Köpfen zu lösen, sozusagen. So sitzt man dann zum Beispiel im Deutsch-Russischen Begegnungszentrum, das die verschiedenen Dialogformate koordiniert, zusammen. Und Valentina ist, wie sie sagt, oft konsterniert. Über die Gäste aus Deutschland will sie eigentlich nur Gutes berichten, doch über die Blockade wüssten sie einfach nichts. „Die können uns alles über den Holocaust erzählen. Doch was sie hier von der Blockade erfahren, ist ihnen gänzlich neu. Sie sind selbst erstaunt, wie das eigentlich sein kann.“
Nicht alle Alten in St. Petersburg seien bereit, Deutschen die Hand zu reichen, sagt Valentina. Da gebe es immer noch Vorbehalte und tiefsitzende Ängste. Wenn man zum Beispiel zum deutschen Soldatenfriedhof Sologubowka bei St. Petersburg fahre, weigerten sich manche, mitzukommen. Valentina selbst hätte allen Grund, den Deutschen zumindest mit Misstrauen zu begegnen, nach allem, was passiert ist. Ihr Mann Oleg, auch ein Kind der Blockade, wurde nur 54 Jahre alt. Eine Tuberkulose-Erkrankung aus der Nachkriegs-Zeit im zerstörten Leningrad hatte ihm sein Leben lang zu schaffen gemacht. Valentina bewahrt zwei Teddybären auf, die Oleg in der belagerten Stadt getröstet hatten, als er noch klein war. Jede Familie habe solche „Reliquien der Blockade“.
Erste Kontakte mit Kriegsgefangenen
Das Wunder der Versöhnung mit den Deutschen begann für Valentina gleich nach dem Krieg. In Leningrad arbeiteten viele deutsche Kriegsgefangene. „Wir Kinder sind ständig zu ihnen hin. Solche Kontakte hat niemand unterbunden. Die Männer haben uns Holzspielzeug gebastelt. Einer wollte mir sogar beibringen, wie man auf dem Akkordeon spielt.“
Heute kann es Valentina gar nicht genug Begegnung mit den Deutschen sein. Sie will den Gästen die Stadt zeigen, die sie so liebt und die wiederaufbaut wurde, so dass man ihre Kriegswunden nicht mehr sieht. Freiwillige sollen ihr nicht zur Hand gehen oder höchstens mal, wenn etwas über ihren Blockadekinder-Klub auf YouTube hochgeladen werden muss. „Ich brauche niemanden, der mir den Boden wischt oder die Fenster putzt. Mir ist wichtig, dass wir reden, dass wir uns kennenlernen.“ Es sei ein Jammer, dass wegen der Pandemie derzeit keine Treffen stattfinden könnten, hoffentlich gehe es bald weiter damit. „Wir Veteranen haben nicht mehr so viel Zeit vor uns, die wollen wir nutzen. Kommen Sie uns doch mal in St. Petersburg besuchen“, sagt sie zum Abschied am Telefon.
Tino Künzel