Irina Kowaljowa (64)
Filmregisseurin. Tochter des Schriftstellers, Publizisten und Übersetzers Herold Belger (1934-2015), der zum Zeitpunkt der Deportation von der Wolga nach Kasachstan sechs Jahre alt war und von klein auf die kasachische Sprache erlernte, bis er sie kunstvoll beherrschte. Belger wird vor allem in Kasachstan verehrt. Nach ihm sind Straßen in mehreren Städten benannt.
Seit dem Tod meines Vaters kümmere ich mich um seinen Nachlass und führe sein Lebenswerk weiter. Die Deportation der Deutschen beschäftigt mich deshalb buchstäblich jeden Tag. Denn sie zieht sich als Thema durch all sein Schaffen, seine Schriften, seine Briefe. Anders kann es angesichts dieses Schicksals ja auch gar nicht sein. In unserer Familie war dieses Thema allgegenwärtig, denn es ging ja alle an, darunter auch meine Großeltern. Ich selbst wurde in Nordkasachstan geboren.
Was der 28. August 1941 für mich bedeutet? Endlosen Schmerz, Anteilnahme, Mitgefühl. Ich bin nicht so gutmütig, wie es mein Vater und meine Großeltern waren. Davor, wie sie das alles weggesteckt haben, ohne sich unterkriegen zu lassen, wie sie ihr Leben gemeistert und sich ihre Menschlichkeit bewahrt haben, ohne zu klagen und ohne zu verbittern, kann ich nur den Hut ziehen. Meine Großmutter hat in einem Dokumentarfilm einmal einen Satz gesagt, der mich umgehauen hat. Sie war damals schon über 80, lebte inzwischen in Taschkent und das auch nicht gerade im Wohlstand. Und nun sagte sie also diesen Satz: „Wohin die Partei und die Regierung uns schicken, dorthin fahren wir auch.“ Das waren sehr gesetzestreue, friedfertige und arbeitsame Menschen.
Neulich habe ich im Flugzeug eine Erzählung meines Vaters gelesen. Geschrieben hat er sie, als er schon weit über 60 war. Und wissen Sie was? Die Geschichte handelt davon, dass er selbst in diesem Alter keine Antwort darauf hatte, wo denn nun seine Heimat, sein Platz auf der Welt ist. Das ist es, was die Deportation mit den Menschen gemacht hat! Einen „Pilger mit löchrigem Schirm“ hat sich mein Vater damals genannt. Ich finde das sehr passend.
Bei uns zu Hause wurde Russisch gesprochen. Meine Großeltern wollten um Himmels Willen nicht, dass noch die nachfolgenden Generationen Ähnliches erleiden müssen wie sie und sich durch die deutsche Sprache verraten. Deshalb spricht heute nur der Teil der Familie Deutsch, der in Deutschland lebt. Und ich habe viele, viele Jahre nur unter Pseudonym gearbeitet. Wo ich auch hinkam, hat man mir zu verstehen gegeben, dass mein deutscher Familienname ein Problem ist. Das hat sich erst erledigt, als ich geheiratet habe. Wobei mir der Name Belger bis heute in Kasachstan viele Türen öffnet.
Mein Vater hat gegenüber seiner Tochter alles erfüllt, was ein Vater nur tun kann. Mit einer Ausnahme: Im Kommunismus, den er mir versprochen und an den er trotz allem geglaubt hat, haben wir dann doch nicht gelebt.
Nun wissen Sie, wie ich zum 28. August stehe. Ich bin mit diesem Thema aufgewachsen, es hat mich durch mein gesamtes Leben begleitet. Aber was ich mich wirklich frage, ist, wie wohl unsere Enkel und Urenkel einmal auf dieses Datum blicken werden. Das bewegt und besorgt mich sehr.
Wladimir Auman (85)
Historiker und Publizist. 1938 in einer ehemals deutschen Kolonie in der Ukraine geboren, nach 1941 in Nordkasachstan aufgewachsen. Sein Großvater wurde in den 1930er Jahren verhaftet und verschwand spurlos. Sein Vater kehrte aus der Trudarmee nicht zurück.
Für mich markiert der 28. August 1941 den Anfang vom Ende der Russlanddeutschen als Volk. Vertrieben allein dafür, dass sie Deutsche waren. Ein heldenhaftes Volk, wie es das alles ertragen hat, wie es selbst unter diesen Umständen seine Arbeit gemacht hat. In der Hoffnung, dass das ein Fehler sein muss, dass sich alles aufklären wird.
Die Ahnen dieser Deutschen waren dem Ruf Russlands gefolgt, hatten Russland blühende Landschaften beschert. Sie glaubten fest an ihre neue Heimat. Und dann hat man sie für nichts und wieder nichts in alle Winde zerstreut. Das war der Anfang der Zerstörung des Volkes und hat letztlich dazu geführt, dass Millionen Russlanddeutsche nach Deutschland ausgewandert sind.
Rinata Geidt (32)
Fachschullehrerin. Ursprünglich in deutschen Dörfern an der Wolga zu Hause, verschlug es ihre Vorfahren 1941 in die sibirische Region Nowosibirsk. Sobald es in den 1980er Jahren möglich war, kehrte die Familie, die zwischenzeitlich in Kasachstan gelebt hatte, an die Wolga zurück.
Ich habe schon als Kind an Veranstaltungen teilgenommen, die dem 28. August gewidmet waren und die das Begegnungszentrum in meiner Stadt Marx ausgerichtet hat. Am Anfang habe ich mich natürlich noch nicht so mit den genauen Hintergründen beschäftigt. Aber mit jedem Gedenktag hat sich mir die Tragödie der Deutschen besser erschlossen. Und dann habe ich an diesem Tag vor zwölf Jahren in unserer lutherischen Kirche Gedichte vorgetragen – im Beisein meiner Oma. Von da an war mir klar, was für ein Schmerz damit verbunden ist.
Einmal sind wir zu dritt – Oma, Mama und ich – zu der Stelle gefahren, wo früher Omas Dorf gewesen war und von wo man sie 1941 im Alter von vier Jahren nach Sibirien verfrachtet hat. Dort ist heute nur nackte Steppe.
Die jüngeren Deutschen versuchen heute, auf einer emotionalen Ebene nachzuvollziehen, was das heißt: die Vertreibung eines ganzen Volkes. Wenn sie im August dieser Ereignisse gedenken, dann haben diese Veranstaltungen immer einen tiefen Sinn.
Bella Hartwig (49)
Historikerin und Dozentin. Im Juli 1941 wurde ihr Großvater aus einem deutschen Dorf in der Ukraine zur Roten Armee rekrutiert, doch als Deutscher bald von dort abgezogen und in die Trudarmee gesteckt. Ihre Großmutter kam wie viele andere nach Kasachstan.
Dass wir Deutsche sind, habe ich als Kind von meinem Vater erfahren. Als mich Gleichaltrige wegen meiner Nationalität ärgerten und mir die Tränen übers Gesicht liefen, hat er mich damit getröstet, dass Marx und Engels schließlich auch Deutsche gewesen seien. Sogar Lenin hatte deutsche Wurzeln, hat er gesagt. Und dass ich stolz sein soll.
Von der Verfolgung der Deutschen in der Sowjetunion hat er mir zum ersten Mal in den Perestroika-Jahren erzählt. Von der Deportation, von der Trudarmee, in der mein Großvater arbeiten musste. Und davon, dass man als Deutscher in der Sowjetunion nicht an jeder Hochschule studieren konnte und lange Zeit auch nicht überall dort leben durfte, wo man es gern gewollt hätte.
So wurde mir also eröffnet, dass meine Großeltern nicht etwa freiwillig von der Ukraine nach Kasachstan umgezogen sind, sondern dass man sie zwangsumgesiedelt hatte. Ende der 1980er Jahre haben wir darauf gewartet, dass der Staat sich gegenüber den Deutschen für die Verfolgung erklärt, dass die deutsche Wolgaautonomie wiederhergestellt wird. Papa hat mich gefragt: Würdest du dahin gehen? Ja, würde ich, habe ich geantwortet. Damals waren wir bereits von Kasachstan in einen Ort in der Region Samara gezogen, wo ich ohnehin nicht bleiben wollte.
Aber die Frage einer neuen Wolgarepublik wurde fallengelassen. Die neuen Landesherren benutzten sie zu ihren eigenen Gunsten. Ihnen konnte man noch nicht mal einen Vorwurf machen, nicht sie waren ja für die Repressionen verantwortlich gewesen. Als Jelzin im Januar 1992 der Republik eine Absage erteilte, ist meinem Vater alles klar geworden. Mir hat er gesagt, wir müssten uns nun entscheiden, mit wem wir uns assimilieren wollen: mit den Russen oder mit den Deutschen in Deutschland. Wir sind in Russland geblieben.
Der 28. August ist für mich das Symbol für eine Zäsur: Heute gehörst du dazu und bist wie alle, morgen findest du dich auf der anderen Seite wieder.
Aufgeschrieben von Tino Künzel und Olga Silantjewa