Das Jahr der roten Linien

Der 24. Februar ist seit 2022 nicht mehr „ein Tag“, sondern für immer „der Tag“. Vor einem Jahr hat ein anderes Leben auch für die MDZ begonnen.

Russland liest noch Printmedien. Die einen sind dabei mit dem offiziellen Narrativ vollkommen zufrieden, die anderen nicht. (Foto: Alexander Krjaschew / RIA Novosti)

Davon haben Sie im Laufe dieses schrecklichen Jahres bestimmt mehrmals gehört: den roten Linien. Politiker und Experten ziehen immer gerne diese gedachten Linien und warnen vor ihrer Überschreitung. Wenn das doch passiert, definieren sie neue Grenzen, die ebenso leicht ignoriert werden. Egal worum es geht, das Ergebnis ist immer dasselbe.

„Alles ist erlaubt“

Der Westen lehnte vorerst die Idee ab, der Ukraine diese oder jene Waffen zu liefern, aber dann passierte es doch. Erst einmal ging es um tödliche Waffen generell, die nächste rote Linie waren Himars-Systeme und dann Kampfpanzer. Russland hat seinerseits ebenso viele Grenzen überschritten – sowohl im übertragenen als auch wörtlichen Sinn. Und dies nicht nur im Kampfgebiet: Viele haben die Mobilmachung für unmöglich gehalten, und nun tragen Hunderttausende Männer Tarnkleidung weit entfernt von ihren Familien. Und Politiker, die „im vorherigen Leben“ den liberalen Ruf hatten, posten derzeit auf Telergam und Twitter obskure, einfach unmögliche Äußerungen. Das Ganze läuft nach Dostojewski, der in seinem heute superaktuellen Roman „Verbrechen und Strafe“ schrieb: „Wenn es keinen Gott gibt, ist alles erlaubt“. Nur statt der Axt Raskolnikows, die er für das Prüfen seiner Theorie verwendet hatte, sehen wir Prigoschins Vorschlaghammer.

Keine Klage

Wenn man jedoch eine Journalistin oder einen Journalisten in Russland fragen würde, ob das Zitat von Dostojewski zur Gegenwart passt, wird er oder sie es nicht unbedingt behaupten. Nach dem 24. Februar, nach unvorstellbar riesigen menschlichen Verlusten sind viele bereit zu sagen, dass es keinen Gott gibt. Der zweite Teil des Zitats stimme nicht ganz: Während den einen wirklich alles erlaubt ist, werden die anderen für alles bestraft.

In Russland kann man für Worte bestraft werden. Wenn das jemand weiß, dann die Printmedien. Sollte das Wort „Krieg“ im Zusammenhang mit den Ereignissen in der Ukraine auftauchen, kann das große Unannehmlichkeiten nach sich ziehen. Es ist unwichtig, dass die Moderatoren der Fernsehsender und ihre Gäste in den zahllosen Talkshows diesen Begriff ohne Folgen für ihre Sicherheit und ihre Karriere im Munde führen. Sie dürfen das, aber die MDZ nicht.

Ist das Ihr Ernst? Sie wollen sich über unser schweres Leben bei der Zeitung beschweren, während zur gleichen Zeit bei Bachmut massenhaft Leute sterben, das russische Schebekino ständig unter Beschuss steht und die Einwohner von Nikolajew in den Kellern ausharren müssen? Nein, liebe Leser, das ist keine Beschwerde. Das ist eine Zwischenbilanz. Das ist, an welchem Punkt wir – die russische Gesellschaft, die russischen Medien und insbesondere die MDZ – in diesem Jahr angekommen sind, welche roten Linien wir uns gezogen haben.

Die Zeitung neu erfinden

Was war die MDZ vor einem Jahr für eine Zeitung? Was hat sich für uns nach dem 24. Februar 2022 verändert? Um es kurz zu sagen – alles. Themen, Partner, die Zusammensetzung der Redaktion und das Wichtigste, wie sich die MDZ heute selbst sieht.

Früher war alles einfach: Russland ist ein großes und interessantes Land. Natürlich gibt es hier einen Haufen Probleme, manchmal sogar grässliche, wie zum Beispiel die Folterung von Gefangenen. Die MDZ hatte darüber berichtet. Aber sie schrieb auch über andere Dinge. Über einfache Menschen, über verschiedene Regionen, darüber, was das Land einzigartig macht, sodass es zum Reiseziel für unsere Leser wird. Jetzt kann man darüber nicht so wie früher schreiben. Hinderungsgründe für faszinierende Entdeckungsreisen nach Russland sind bei Weitem nicht nur die hohen Flugpreise und das Fehlen von Direktflügen, sondern auch der eigentliche Grund für ihr Nichtvorhandensein.

Nicht wenige russische nicht staatliche Medien sind in die Emigration gegangen. Das ist sehr leicht zu verstehen, denn das Gesetz über die Diskreditierung der Armee macht viele Journalisten arbeitslos. Für diejenigen, die objektiv und beide Seiten zu Wort kommen lassend über das Geschehen in den Kampfzonen berichten wollen, ist es heute schwierig zu arbeiten. Wenn ein Moskauer Massenmedium es für nötig hält, dass für die Leser, Zuschauer oder Hörer die Information über die Zahlen der Verluste der russischen Armee in der Ukraine wichtig ist, kann es die offiziellen Angaben des russischen Verteidigungsministeriums veröffentlichen. Das letzte Mal hat das Ministerium die Zahlen im September vergangenen Jahres veröffentlicht. Eine Berufung auf Daten aus anderen Quellen kann als Diskreditierung der Armee eingestuft werden.

Keine Mitte mehr

Wir hören andauernd, dass die Journalistik heutzutage nicht in reiner Form existieren kann. Man darf nicht objektiv sein und man darf nicht einfach weiter seine Arbeit machen wie früher. Es gibt keine Mitte und keine professionelle Abstrahierung. Man muss sich eine Seite aussuchen und dann für ihren Sieg arbeiten. Und es geht gar nicht, wenn die Journalisten die gegnerische Seite zu Wort kommen lassen. Die Rede ist nicht einmal von solchen Beiträgen wie dem Interview mit dem tschetschenischen Feldkommandeur Schamil Bassajew, das er 2005 dem ABC-Korrespondenten Andrej Babitzki gab. Damals sollte der Journalist zur Verantwortung gezogen werden. Jetzt kann man dafür, dass man Leute mit einer weitaus weniger schillernden Biografie als die des von Russland als Terroristen eingestuften und 2006 getöteten Bassajew zu Wort kommen lässt, mit Folgen oder mindestens mit Verurteilungen rechnen.

An Kritikern mangelt es nicht

Genau solche Vorwürfe kann man von ukrainischen Kommentatoren und von russischen Journalisten, die ins Ausland gegangen sind, hören. So geriet der in Russland als ausländischer Agent eingestufte Chefredakteur des Radiosenders „Echo Moskwy“ Alexej Wenediktow ins Kreuzfeuer der Kritik. Man schmiert ihm nicht nur seine Haltung zur elektronischen Abstimmung aufs Brot, die eine Reihe von Kandidaten der Opposition den Sieg kostete, sondern auch die Einladung „falscher“ Personen ins Radio. Sein Fett für seine negativen Kommentare bekommt auch der Nobelpreisträger und Chefredakteur der von der russischen Regierung geschlossenen „Nowaja Gaseta“ Dmitri Muratow von proukrainischen Quellen ab.

Die in Russland Verbliebenen müssen darauf gefasst sein, dass die Pfeile von allen Seiten fliegen werden. Die MDZ kennt das aus eigener Erfahrung. Über uns beschweren sich anonyme Leser bei der Staatsanwaltschaft. Manch einer findet, dass unsere Beiträge als extremistisch eingeschätzt werden können. Andere bezichtigen uns der Schwulen- und Lesbenpropaganda. Überall rote Linien.

Und was erwarten Sie?

Man kann nicht behaupten, dass die MDZ nicht auch schon vor der „Spezialoperation“ angegriffen wurde. Und zwar sehr heftig. Warum berühren uns gerade jetzt die spitzen Kommentare? „Was erwarten Sie von Medien, die in Russland nicht verboten und nicht einmal ausländischer Agent sind? Die Wahrheit?“, fragt ein Besucher der MDZ-Seite in einem sozialen Netzwerk, das jetzt in Russland halb legal existiert.

Auch vorher waren bei Weitem nicht alle zu einem Interview für die Zeitung bereit. Aber heute hat das Problem andere Ausmaße. Wenn du über das Erlernen der deutschen Sprache sprechen möchtest, bekommst du zur Antwort: Wir möchten einem Blatt, das die „Verbrechen des russischen Staates in der Ukraine nicht aktiv thematisiert“, nicht zu einem Interview zur Verfügung stehen. Was soll man dazu sagen? Jeder hat seine roten Linien, das muss man einfach akzeptieren.

Was tun? Die MDZ setzt ihre Arbeit fort und versucht, sich selbst treu zu bleiben. Auch wenn es nicht jedem gefällt. Oder sollen wir lieber dichtmachen und denjenigen eine Freude bereiten, die von unserer Arbeit nicht begeistert sind? Auf keinen Fall.

Igor Beresin

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