Komfortzone ade!

Seit der Bekanntgabe der Mobilmachung scheint es so, als ob Russland in einer irrealen Welt lebt. Im Gegenteil, die bittere Realität klopft endlich an die Tür.

Moskau verabschiedet sich von Mobilisierten. (Foto: Kirill Sykow/AGN Moskwa)

Mobilmachung wurde mehrmals in der russischen Geschichte verkündet, unter anderem 1914, drei Tage nach dem Beginn des Ersten Weltkrieges, und 1941, nach dem Einmarsch der deutschen Wehrmacht in die Sowjetunion. Dezeit, nach der Bekanntgabe der „Teilmobilmachung“ am 21. September 2022, erlebt Russland wieder einen historischen Moment.

Es stellt sich gleich die Frage, ob das, was in der Ukraine passiert, heute noch „Spezialoperation“ heißen könne oder man schon das Wort „Krieg“ in Gebrauch nehmen dürfe? Experten in den Politik-Talkshows antworten: Unsererseits ist es eine „Spezialoperation“, der kollektive Westen jedoch „habe einen hybriden Krieg gegen Russland entfesselt“.

Wieso?

Gleichzeitig könnte die Mobilmachung für manchen eine Überraschung werden. In jedem Bericht betont die Staatsführung, alles liefe nach Plan. Es gibt Verluste, ja, 5937 Tote nach Angaben des Verteidigungsministers Schoigu, aber die Armee erfülle ihre Aufgaben. Wozu braucht man denn hunderttausende Reservisten im Kampfgebiet, die noch ausgebildet und ausgestattet werden müssen? Und wieso ich (mein Sohn, Mann, Bruder, Vater, Neffe)? Wieso muss ich dorthin gehen?

Unbegründete Hysterie

„Es lässt sich irgendwie verstehen, dass es in den ersten Stunden nach der Bekanntgabe und auch noch am ersten Tag eine hysterische, äußerst emotionale Reaktion gegeben hat“, gab der Kremlsprecher Dmitri Peskow zu. Aber diese „hysterische Reaktion“ dauert trotz allen verbalen Interventionen der Politiker bis heute an. Kremlnahe Blogger entwickelten den Hashtag #безпаники (keine Panik): Es wird nur ein Prozent der 25 Millionen starken Reserve rekrutiert. Das sei so wenig wie eine Fritte von einer ganzen Portion. Solche Bilder postet man heute mit diesem Hashtag. Der Tenor: Junge Männer, die keine Kampferfahrung haben, sollten aufatmen und weiter ruhig ihren Latte macchiato in Trendlokalen genießen.

Quantität statt Qualität

Das funktioniert aber nicht. Männer verlassen Russland fluchtartig aus Angst vor der Mobilmachung, und diese Angst ist durchaus völlig begründet. Jederzeit kann die „Teilmobilmachung“ zur vollständigen Mobilmachung werden. Außerdem lief der Prozess am Anfang nicht so, wie es offiziell präsentiert wurde. In den ersten Tagen der Kampagne beriefen die Bezirksmilitärkommissariate viele Männer ein, die den verkündeten Auswahlkriterien in keiner Weise entsprechen. Einberufungsbefehle bekamen ältere Leute und diejenigen, die zuvor keinen Wehrdienst geleistet hatten sowie kinderreiche Väter. Das Video einer burjatischen Journalistin, deren Mann eine Einladung zum Militärkommissariat erhielt, machte die Runde. Die Familie hat fünf Kinder. Über solche „Fehler“ berichten Medien in ganz Russland. Allein in der Region Magadan im Fernen Osten nahm der lokale Ombudsman rund 300 Beschwerden über Verstöße bei der „Teilmobilmachung“ entgegen.

Einfach lokale Überspitzungen

Der Staat reagierte auf solche Vorfälle unerwartet scharf. Der Leiter des Menschenrechtsrates des russischen Präsidenten Waleri Fadejew richtete einen Brief an den Verteidigungsminister Schoigu, in dem er das Vorgehen der Militärkommissariate kritisiert. Die Situation gelte es schnellstmöglich zu korrigieren, hieß es im Brief. Der TV-Moderator Wladimir Solowjow, den die Oppositionellen einen der wichtigsten Propagandisten des Kreml nennen, ging noch weiter. Er schlug kurzerhand vor, die Militärkommissare, die derartige Fehler zulassen, zu erschießen. Das alles ruft bei manchen ganz bestimmte Assoziationen hervor. Stalin behauptete, die Parteilinie bei der Zwangskollektivierung und Bildung der Kolchosen in den 1930ern sei absolut richtig gewesen, es sei jedoch vereinzelt zu „Überspitzungen“ in den Regionen gekommen.

Alles sei vorhanden, behaupten die Mobilmachungskommissare. In den sozialen Netzwerken kann man ein anderes Bild sehen. (Foto: Kirill Sykow/AGN Moskwa)

Unerwartete Unterstützung für Reiseindustrie

Allerdings können keine Korrekturen die Mobilmachungskampagne in den Augen eines beträchtlichen Teils der Reservisten retten. Sie versuchen, ins Ausland zu fliehen. In den ersten Tagen nach der Bekanntgabe über den Beginn der „Teilmobilmachung“ waren fast alle Flugtickets für die wichtigsten „Exodusrichtungen“ ausverkauft. Almaty, Jerewan, Istanbul – egal wohin, Hauptsache möglichst weit weg von den Bezirksmilitärkommissariaten. Die Flugtickets, die noch erhältlich sind, kosten manchmal so viel, dass es günstiger wäre, eine Urlaubsreise für zwei Personen zu kaufen, die russische Reisebüros noch anbieten. Die Wehrdienstverweigerer nutzen diese Möglichkeit sehr gern.

Wer sich für eine Flucht über die Landesgrenze entscheidet, muss mit verschiedenen Hindernissen rechnen. Das Wirtschaftsradio „Kommersant FM“ berichtet über einen Fall am Grenzübergang Werchnij Lars. Der junge Oleg fuhr im Kofferraum eines umgebauten Opel Astra über die Grenze, es waren noch zehn weitere Mitfahrer in diesem Auto. Den Grenzsoldaten hat es die Sprache verschlagen, aber sie ließen den Wunderwagen durch.

Russen und Juden sind unerwünscht

Mittlerweile schließt sich allmählich das Fenster der Fluchtgelegenheiten. Es gibt schon Berichte darüber, dass einige „Reisende“, die derzeit Russland schnellstmöglich verlassen möchten, an der Grenze aufgehalten werden. Das russische Verteidigungsministerium behauptet, es gebe keine Beschränkungen: „Während der Durchführung der Teilmobilmachung in der Russischen Föderation sind keine Reiseverbote für russische Staatsbürger vorgesehen.“ Aus dieser Erklärung geht nicht hervor, ob es nur um Russland oder auch um das Ausland geht. Die Einrichtung einer Mobilmachungsstelle an der Grenze zu Georgien ist eine weitere schlechte Nachricht für russische Reservisten.

Sie sehen sich mit Problemen nicht nur diesseits der Grenze konfrontiert. Auch Grenzsoldaten im Zielland können die Einreise für Männer aus Russland verweigern. So wurden zum Beispiel einzelne Autofahrer aus Georgien zurückgeschickt. Ihre Wagen waren mit dem Buchstaben „Z“ und einem Georgsbändchen verziert. (Sie waren wohl nicht im Bilde, dass das Georgsbändchen nichts mit Georgien  zu tun hat).

Die Logik der Grenzwächter in Estland lässt sich viel schwerer begreifen. Sie verhindern die Einreise nicht nur für russische Wehrdienstverweigerer, sondern sie lassen auch Personen mit israelischen Dokumenten nicht durch.

Die „Teilmobilmachung“ ist in Gange. (Foto: Sergej Wedjaschkin/AGN Moskwa)

Die neue Welt ist da

Die meisten bleiben jedoch in Russland. All jene, die bereit sind, mit der Waffe in der Hand in die Ukraine zu fahren, sowie diejenigen, die ohne Waffen gegen Kriegshandlungen protestieren. Für diese Teile der russischen Gesellschaft hat sich nicht viel verändert. Die „Teilmobilmachung“ betrifft aber auch Russen, die bis dahin ihr gewohntes Leben führten und sich von Politik fernhielten. Nun klopft das Schicksal an ihre Pforte.

Und die Mobilmachung ist in vollem Gange. Die Organisatoren werden sicherlich belohnt. 1914 gab es sogar eine Medaille für Mobilmachungskommissare. Das war übrigens die letzte Medaille des Russischen Imperiums.

Igor Beresin

Newsletter

    Wir bitten um Ihre E-Mail: