Das Ende der Selbstisolation: Sinneswandel in Moskau

Nach mehr als 10 Wochen verordneter Selbstisolation darf Moskau ab heute wieder an die frische Luft. Es ist der Auftakt zu weiteren großen Lockerungen in den nächsten Wochen – und ein neuer Kurs in der Politik des Bürgermeisters.

Gibt den Weg vor: Moskaus Bürgermeister Sergej Sobjanin (rechts) beim Besuch eines Krankenhauses (Foto: AGN Moskwa)

Wie so häufig in letzter Zeit fiel die Entscheidung von einem Tag auf den anderen. Als Moskaus Bürgermeister Sergej Sobjanin gestern das Ende des Lockdowns verkündete, kam das für viele in der russischen Hauptstadt überraschend. Bis vor Kurzem klangen Sobjanins Stellungnahmen noch so, als werde die Selbstisolation, wenn auch in zunehmend abgeschwächter Form, weitere Wochen oder Monate anhalten. Der Mann, mit dessen Wort der Alltag von Millionen Moskauerinnen und Moskauer steht und fällt, hatte noch Ende Mai angekündigt, den Ausnahmezustand grundsätzlich bis zur Findung eines Impfstoffes aufrecht erhalten zu wollen.

Die Lage in der russischen Hauptstadt, hieß es da noch, sei „nicht gerade schillernd“. An jenem Tag, dem 27. Mai, wurden für ganz Russland 8785 Neuinfektionen innerhalb von 24 Stunden festgestellt, davon 2054 in Moskau. Heute liegen diese Werte bei 8371 beziehungsweise 1572. Zugleich steigt die ohnehin schon als viel zu niedrig geltende Zahl der Todesfälle so stark wie noch nie zuvor. Seit Beginn dieses Monats hat sie bereits die 5000er- sowie 6000er-Marke durchbrochen. Es kann weder von einer bedeutenden Verbesserung der epidemiologischen Situation die Rede sein, noch wurde mit einer Massenimpfung der Bevölkerung begonnen.

Keine Ausgangsbeschränkungen, kein Passsystem

Nichtsdestotrotz soll Moskau nun laut Sobjanin zum „normalen Lebensrhythmus“ zurückkehren. Die Zeit der Selbstisolation ist vorbei und mit ihr enden in erster Linie die bisherigen Ausgangsbeschränkungen. Dabei war für diese erst in der vergangenen Woche ein komplexes System mit befristeten Erlaubnissen, organisiert nach Wohnblöcken, erlassen worden. Nur wenige Tage nach seiner Einführung dürfen jetzt alle Bewohnerinnen und Bewohner der Stadt „ohne Einschränkungen ausgehen, ihre Geschäfte erledigen und öffentliche Plätze aufsuchen“, so Sobjanin. Dies gelte sogar für die Risikogruppe der 65-Jährigen mit chronischen Vorbelastungen.

Zugleich wird den Moskauerinnen und Moskauern ihre Mobilität zurückgegeben. Das für den öffentlichen Verkehr eingeführte elektronische Passsystem, in dem die Menschen eine behördliche Erlaubnis für Ausflüge mit Auto, Bus und Bahn einzuholen mussten, ist passé. Auch bisherige Restriktionen für die Nutzung von Carsharing-Diensten gehören der Vergangenheit an. Des Weiteren dürfen Schönheitssalons, Friseure, Tierkliniken, Friedhöfe, Arbeitsagenturen, Nichtregierungsorganisationen und Aufnahmestudios ihren Betrieb wiederaufnehmen.

Drei große Schritte in Richtung Normalität

Den nächsten Meilenstein auf dem Weg zur Normalität markiert der 16. Juni. Es ist das Datum, ab dem der Moskauer Kulturbetrieb wieder Fahrt aufnehmen soll. Bereits heute ist es Theatern und Zirkussen erlaubt, in ihren Einrichtungen zu proben. In einer Woche folgt die Öffnung von Museen, Ausstellungen und Zoo-Anlagen. Sogar Sportveranstaltungen können dann wieder besucht werden – wenngleich unter strengen Auflagen und einer Maximalauslastung von 10 Prozent. Die Maßnahmen treten somit pünktlich zum Neubeginn der obersten Spielklasse des russischen Fußballs in Kraft. Während die Kontinentale Hockey-Liga (KHL) ihre Saison nicht mehr fortsetzen will, soll in der Premjer-Liga ab dem 21. Juni wieder losgehen. Anfang Mai hatte es noch von Seiten der russischen Verbraucherschutzbehörde Rospotrebnadsor geheißen, dass Massenveranstaltungen an letzter Stelle des Lockerungsprozesses stünden.

Abgesehen vom eben Genannten werden am 16. Juni noch Zahnkliniken, Bibliotheken, Immobilienbüros sowie diverse Agenturen ihre Arbeit antreten. Außerdem dürfen Cafés und Restaurants ihre Sommerterrassen bewirten. Wieder eine Woche später, am 23. Juni, möchte Moskau grünes Licht für die Verköstigung in geschlossenen Räumen geben. Zugleich sollen die von der Krise gebeutelten Fitness-Studios, Schwimmbäder und andere sportliche Einrichtungen ihre Tore für die Kundschaft öffnen. Insbesondere für Familien handelt es sich um ein wichtiges Datum: Spielplätze und auch Kindergärten werden dann ebenfalls wieder zur Verfügung stehen.

Eine erneute Selbstisolation ist nicht zu erwarten

Was bei all diesen Änderungen vorerst bestehen bleibt, sind die in Moskau eingeführte Maskenpflicht, offizielle Abstands-Empfehlungen sowie andere sanitäre Auflagen. Sobjanin warnte die Moskauer Bevölkerung vor Fahrlässigkeit, erinnerte an „die Regeln der Selbstachtung und des Respekts für andere“. Eine Veränderung in seiner ist dennoch auszumachen. Anders als noch zuvor spricht der Bürgermeister dieses Mal nicht davon, die Restriktionen bei einer Verschlechterung der Lage möglicherweise wiedereinzuführen. Elwira Nabiullina, die Chefin der russischen Zentralbank, erwähnte jüngst, dass erneute Maßnahmen bei einer zweiten Welle wohl weniger streng ausfallen würden. Der „nächste gemeinsame Sieg“, wie Sobjanin das Ende der Selbstisolation nennt, scheint kein Zurück zu kennen.

Unterstützung für seinen Kurswechsel erhält Moskaus Bürgermeister aus dem Kreml. Dessen Sprecher Dmitrij Peskow betonte, dass es sich um eine stückweise Aufhebung der Restriktionen handele und bezeichnete das Vorgehen des Bürgermeisters als „sehr vernünftig“. Den Plänen der Regierung dürften Sobjanins Änderungen recht kommen. Genau einen Tag bevor die russische Hauptstadt am 24. Juni den neuen Termin der Siegesparade begeht, tritt die letzte Stufe der Maßnahmen in Kraft. Auch zum Referendum am 1. Juli wird man sich mit den bisherigen Auflagen nicht mehr beschäftigen müssen.

Patrick Volknant

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