„Wir sind alle unvollkommen“

Als Papst Franziskus Ende August per Videobrücke zu 350 russischen Jugendlichen sprach, schlug das ganz woanders Wellen. Doch der Deutsche Clemens Pickel (62), Bischof der katholischen Diözese St. Clemens in Saratow an der Wolga, nimmt Franziskus in Schutz: Man möge ihn bitte nicht absichtlich missverstehen.

Viele Wege führen von Rom nach St. Petersburg: Papst Franziskus ist katholischen Jugendlichen und Kirchenvertretern zugeschaltet. (Foto: tvkana.com)

Herr Pickel, das Online-Gespräch mit Papst Franziskus fand während eines fünftägigen katholischen Jugendtreffens in St. Petersburg statt. Wie kam es dazu?

Meine Idee war das nicht. Ich wäre auf so etwas nicht gekommen, weil ich gedacht hätte: Das macht er sowieso nicht. Aber als ihn der Moskauer Erzbischof, der Italiener Paolo Pezzi, in Rom angesprochen hat, da hat Franziskus sofort zugesagt.


Der Sachse Clemens Pickel stammt aus der Kleinstadt Colditz im Landkreis Leipzig, hat aber inzwischen mehr als sein halbes Leben in Russland verbracht. Mit 28 ging er 1990 in die Sowjetunion, die es bald darauf nicht mehr gab. Mit 36 Jahren wurde er zum Bischof geweiht und ist seitdem auch für die Jugendarbeit in seiner Kirche zuständig. Als Bischof von Saratow ist Pickel Oberhaupt eines der vier katholischen Bistümer in Russland. Die anderen drei sind Moskau, Nowosibirsk und Irkutsk.


Wie haben die jungen Leute auf ihn reagiert?

Für die war das etwas ganz Großes, dass er sich für sie Zeit genommen, mit ihnen gesprochen und ihnen zugehört hat. Ich habe auf die Uhr geschaut: Er hat uns 70 Minuten gewidmet. So viel Zeit hat er sonst nicht einmal für Staatsoberhäupter. Das war ein Erlebnis und natürlich das Highlight unseres Treffens. Manche hat das zu Freudentränen gerührt. Vielleicht waren zwei, drei schon mal in Rom und hatten ihn aus der Ferne gesehen. Aber getroffen hatte ihn noch niemand. Und nun war er hier bei uns, zumindest live auf dem Bildschirm.

Was war für Sie besonders denkwürdig an seiner Ansprache?

(Lacht) Nicht, dass es wichtig wäre, aber der Papst hat mich am Anfang persönlich angesprochen. Wir Bischöfe standen in der ersten Reihe, da hat er meinen Namen erwähnt. Wenn ich auf einem Stuhl gesessen hätte, wäre ich runtergefallen.

Das Gespräch mit dem Papst in der St. Petersburger Katharinen-Basilika (Foto: tvkana.com)

Es konnten auch Fragen gestellt werden. Welche Antwort würden Sie hervorheben?

Eine Frage war, wie man in einer katholisch-orthodoxen Ehe mit Konflikten umgehen solle, die zwischen den Ehepartnern aus konfessionellen Gründen entstehen. Der Tenor der Antwort: Schaut auf das Gemeinsame, auf das, was euch eint. Und geht euren Weg. Das fand ich sehr väterlich.

Eine Äußerung wurde unter anderem in Deutschland so kontrovers aufgenommen, dass sich sogar der Vatikan zu einer Stellungnahme genötigt sah.

Ich habe gehört, dass manche sehr verärgert sind. Aber man sollte das im Zusammenhang sehen.

Das Zitat lautet in voller Länge: „Vergesst nicht das Erbe. Ihr seid die Erben des großen Russlands, des großen Russlands der Heiligen, der Könige, des großen Russlands Peters des Großen, Katharina der Großen, des großen russischen Reiches, aufgeklärt, so viel Kultur, so viel Menschlichkeit. Ihr seid die Erben der großen Mutter Russland. Geht voran.“

Der Papst hat die Jugendlichen in freier Rede ermutigt, ihre Wurzeln nicht zu vergessen. Das hätte er über jedes andere Land auch sagen können. Aber es wurde eben politisch ausgelegt. Das tut mir leid. Hier könnte man wieder Franziskus zitieren: Man muss versuchen, das Gute zu sehen, anstatt sich an Unvollkommenheiten hochzuziehen. Wir sind alle unvollkommen. Der Papst ist es auch.

Clemens Pickel, der deutsche Bischof von Saratow (Foto: tvkana.com)

Wie bewerten Sie das Jugendtreffen als Ganzes?

Es war das zehnte seit der Premiere im Jahr 2000 und das erste seit Corona-Zeiten. Das hat mich gefreut. Gerade für Jugendliche ist wichtig, dass sie Kirche auch mal ganz anders erleben als in ihrer Gemeinde.

Nämlich?

Ich selbst bin in einer kleinen Pfarrgemeinde in der DDR großgeworden. Unser Pfarrer dort hat sich sehr bemüht, jeden Jugendlichen irgendwann zu einem größeren Jugendtreffen zu schicken. Das war sein Prinzip. Er hat immer gesagt: Wenn die einmal bei so etwas dabei waren und Kirche in einem größeren Zusammenhang erlebt haben, dann bleiben sie bei der Stange. Jugendtreffen sind ja nicht nur ein Kennenlernen, sondern ein wichtiger Bestandteil der christlichen Formung. Wir machen sozusagen das Fenster ein Stück weiter auf als im Alltag, wenn es nur eine Spalt offensteht.

Gruppenfoto der Teilnehmer des Jugendtreffens (Foto: tvkana.com)

Anfang August fand der Weltjugendtag 2023 in Portugal statt, das große internationale Jugendtreffen der römisch-katholischen Kirche. In welcher Beziehung stehen die beiden Veranstaltungen zueinander?

Unser Treffen war unabhängig vom Weltjugendtag geplant. Aber wir haben die Themen von dort übernommen: integrale Ökologie, soziale Freundschaft und Barmherzigkeit. Also das Verhältnis zur Schöpfung, das Verhältnis zu den Mitmenschen und die Beziehung zu Gott. Das waren die Überschriften für die Arbeitstage.

Sie selbst waren mit 17 russischen Jugendlichen auch beim Weltjugendtag vertreten. Hatten Sie dort den Eindruck, dass es einen besonderen Klang hat, wenn man sagt: Ich komme aus Russland?

Es war jedenfalls kein Problem. In meine Zuständigkeit fielen die sogenannten Katechesen, da hatte ich 150 russischsprachige Jugendliche aus vielen der ehemaligen Sowjetrepubliken bei mir. Wir waren alle in einer Kirche versammelt. Das ging sehr harmonisch zu.

Was sind für Sie heute die größten Gewissenskonflikte, mit denen junge Christen zu kämpfen haben?

Die Schwierigkeit ist tatsächlich, sich für bestimmte Werte zu entscheiden und dann auch dabei zu bleiben. Wenn ich Christ bin und das auch so meine, dann hat das Folgen. Und das müssen Jugendliche nach und nach lernen. Das wollen sie auch. Diesen richtigen Weg zu finden, ist nicht einfach. Ihnen dabei zu helfen, ist eine schöne Aufgabe für uns als Kirche.

Sehen Sie dabei Unterschiede zwischen Deutschland und Russland?

In Europa, nicht nur in Deutschland, brechen die christlichen Werte weg. Russland hat seine Art, wie es diese Werte bewahren will. Auch das ist eine schwierige Sache. Man ist bei allem schnell dabei zu polarisieren. Daran möchte ich mich nicht beteiligen.

In Russland soll es zwischen einigen Hunderttausend und einer Million Katholiken geben. Wie lebt es sich als Minderheit?

Ich bin wegen der Russlanddeutschen nach Russland gegangen. Katharina die Große hat sie ins Land geholt – und das war gut für Russland. Später erging es den Deutschen schlecht. Ich wusste, dass es hier katholische Christen gibt, die keine Priester mehr haben, weil die in den 1930er Jahren umgebracht wurden. Die deutsche Minderheit hat 50 Jahre ausgehalten, ohne dass sie kirchliche Strukturen zur Verfügung hatte.

Heute ist die Situation eine andere. Die Russlanddeutschen sind zum Großteil ausgewandert. Aber trotzdem hat es einen Sinn, hier katholische Kirche zu sein. Wir sprechen von der Welt als dem einen Haus, in der Kirche von Ökumene. Unsere Anwesenheit in Russland ist eine Möglichkeit zum Dialog. Die Russen müssen nicht nach Rom fliegen, um einen Katholiken zu treffen. Man kann sich hier austauschen.

Wir als Minderheit müssen natürlich die Initiative ergreifen. Die Mehrheit wird nicht groß nach uns suchen. Aber diese Brückenfunktion, die können wir erfüllen.

Das Interview führte Tino Künzel.

Newsletter

    Wir bitten um Ihre E-Mail: