Pfarrer Amling: Mit (nur) einem Bein in Moskau

Wenn die Evangelische Kirche in Deutschland nur drei Pfarrstellen im Ausland besetzten könnte, wo müssten die sein? Fridtjof Amling stellt diese Frage und beantwortet sie auch gleich: „In Jerusalem, Rom und Moskau.“ Er selbst will nach Moskau. Aber das ist nicht so einfach.

Pfarrer Fridtjof Amling auf der „Kanzel“, einem Aussichtspunkt in den thüringischen Bergen (Foto: Tino Künzel)

Fridtjof Amling hat den Grill angeworfen. Gebrutzelt werden an diesem sonnig-warmen Junitag Thüringer Rostbrätl und Thüringer Bratwurst, wie es sich gehört in Plaue, einer Kleinstadt zwischen Erfurt und Oberhof. Amlings Vater stammt von hier. Der ging in den 1950er Jahren in den Westen, Amling selbst wurde bereits in Bonn geboren. Aber ein Teil der Familie lebt bis heute hier, am Fuße der Reinsberge in Thüringen. Wenn Amling vorbeischaut, so wie jetzt nach dem Kirchentag in Nürnberg, dann bezieht er in einem etwas provisorisch eingerichteten Wochenendhäuschen Quartier. „In Russland würde man wohl Datscha dazu sagen“, sagt er und lacht, dann wäre das Grundstück aber wahrscheinlich besser in Schuss.

Tja, Russland. Man kann sich Pfarrer Amling gut vorstellen, wie er hier mehr als auf der Durchreise ist. Er hat schon in der Gera gestanden, dem Nebenfluss der Unstrut, der durch Plaue fließt. Jedes Mal unternimmt er eine Wanderung zu einem Aussichtspunkt in den Reinsbergen, der passenderweise „Kanzel“ genannt wird, und schaut von dort ins Tal. Er weiß viel über den Ort und die Gegend, kann Geschichten erzählen, die bis zu Besuchen in DDR-Zeiten zurückreichen. Von der „Völkerfreundschafts-Disco“ im benachbarten Arnstadt zum Beispiel.

Doch eigentlich, ja eigentlich wäre Fridtjof Amling gern ganz woanders. In Russland. In Moskau. Dort hat er schon zum 1. September 2022 als Pfarrer bei der evangelischen Emmausgemeinde angefangen. Doch auf das passende Visum zur Einreise wartet er bis heute. Viel mehr, als alle zwei Wochen einen Online-Gottesdienst abzuhalten, geht unter diesen Voraussetzungen nicht.

Der richtige Ort, aber das falsche Visum

Der Emmausgemeinde gehören vor allem deutsche beziehungsweise deutschsprachige Expats an: Leute aus der Wirtschaft, Journalisten. Für Amling ist das alles kein Neuland, er war bereits von 2000 bis 2009 der Gemeindepfarrer. Länger konnte er nicht bleiben: Die Evangelische Kirche in Deutschland begrenzt die Entsendezeit ihrer Pfarrer im Ausland auf maximal neun Jahre, eine einmalige Verlängerung um drei Jahre inbegriffen. Dann geht es zurück nach Deutschland. Im Falle von Amling: nach Dinklage in Niedersachsen, etwa auf halber Strecke zwischen Osnabrück und Oldenburg. Dort war er seitdem Pfarrer der evangelisch-lutherischen Kirchengemeinde Dinklage und Wulfenau. Er hat etwas aufgebaut, hat sich wohlgefühlt. „Innerhalb Deutschlands wäre ich nicht noch mal gewechselt“, sagt er.

Doch vor ziemlich genau einem Jahr wurde Amling mit einem Festgottesdienst verabschiedet. Zu dem Zeitpunkt ging er davon aus, in Kürze seine neue alte Pfarrstelle in Moskau anzutreten, reiste sogar schon mit zwei Monaten Vorlauf in die russische Hauptstadt, um bei einem Sprachkurs sein Russisch aufzufrischen. Und erfuhr von der deutschen Botschaft, dass das Visum in seinem Dienstpass nicht dazu geeignet war, ihn als Botschaftsmitarbeiter beim russischen Außenministerium zu akkreditieren.

Zurück in Deutschland, wartete er erst täglich auf eine Lösung, dann wöchentlich, dann bis Weihnachten, dann nach Weihnachten. In die sich immer weiter verschlechternden diplomatischen Beziehungen zwischen Berlin und Moskau hinein werden Visa in diesem Bereich nur nach dem Prinzip der Gegenseitigkeit erteilt. Und wenn es mal Spielraum gibt, dann steht ein Pfarrer nicht unbedingt ganz oben auf der Liste.

Aber warum überhaupt Moskau? Viele Deutsche haben in den letzten Jahren den umgekehrten Weg genommen. Im „Deutschen Dorf“, dem Wohngebiet der deutschen Botschaft im Südwesten der Stadt, stehen heute dem Vernehmen nach zwei Drittel der Wohnungen leer. Als Amling 2009 Moskau verließ, gab es noch eine Warteliste. Von den früheren Gemeindemitgliedern ist so gut wie keiner mehr da.

Amling sagt, er habe schon immer eine Affinität zum Osten gehabt. Seine Familie ist ohnehin die reinste Ost-West-Geschichte, sogar über den deutschen Osten und Westen hinaus. Amlings Frau Galina wuchs als Deutschstämmige in Kasachstan auf und kam 1993 nach Deutschland. Man lernte sich im niedersächsischen Norderham kennen, 1998 war Hochzeit.

„Schöne DDR-Jugend – warum denn nicht?“

Amling hat auch Verwandtschaft aus Lettland. Ganz nebenbei: Die Einstellungen zu Russland sind in seinem Familien-, Freundes- und Bekanntenkreis durchaus unterschiedlich, auch aus persönlicher Prägung heraus. Amling kennt das wiederum von der Sicht auf die DDR-Vergangenheit: „Wenn mir jemand sagt, dass er eine schöne Jugend in der DDR gehabt hat – ja, warum denn nicht? Das kann ich doch keinem absprechen. Das sagt meine Verwandtschaft doch genauso.“

Er selbst kann sich sichtlich ärgern, wenn bei erstbester Gelegenheit mit dem Finger auf andere gezeigt wird. Das gilt auch für Russland. Die Verbindung dorthin ist nie abgerissen. Amling schreibt sich bis heute mit vier orthodoxen Priestern. 2014 war er für drei Monate an der Geistlichen Akademie der Russisch-Orthodoxen Kirche in St. Petersburg und hat dort nach seinen Worten eine „absolut offene Atmosphäre“ angetroffen. Den damaligen Studenten attestiert er „Wissbegier und Aufgeschlossenheit“. Gleichzeitig ist ihm Kirchenpatriarch Kyrill, der in allen politischen Fragen voll auf der Linie des Kreml liegt, ein Rätsel.

Amling ist in den 1970er Jahren zur Schule gegangen. Wie man zu jener Zeit ein kritisches Denken, auch einen kritischen Umgang mit der eigenen Geschichte gefördert habe, findet er im Rückblick vorbildlich. Der Respekt vor anderen Meinungen, vor der Pressefreiheit, das Eintreten dafür, dass andere Anspruch auf dieselben Rechte haben, die man für sich selbst einfordert, sind ihm wichtig. Sein Geschichtslehrer in Delmenhorst bei Bremen hat übers Wochenende Klassenfahrten in die DDR organisiert. Einmal ging es auch für fünf Tagen nach Polen: Breslau, Krakau, Auschwitz. „Wahnsinn! In so einer Atmosphäre bin ich groß geworden.“

Die Wendezeit verbrachte Amling bei der Bundeswehr. Und auch dort hat man viel diskutiert, erinnert er sich.

Für Russland hat er immer eine Lanze gebrochen, wo er Unwissen und Vorurteile am Werk sah. In einem MDZ-Interview von 2009 nannte er das westliche Russlandbild eine „intellektuelle Katastrophe“.

Von Gott und der Geduld

Die Stelle bei der Emmausgemeinde war bereits im Sommer 2021 freigeworden. Amling erwies sich als der einzige Bewerber. Das Prozedere zog sich dann bis zum Frühjahr 2022 hin. Da war er voller Tatendrang. Doch der jetzige Schwebezustand zehrt an ihm. In Dinklage sitzt er buchstäblich auf gepackten Koffern. „Diese gedämpfte Stimmung, dieses Gefühl, nicht richtig dabei zu sein, so als hätte man mich in den Vorruhestand versetzt, ist schlimm.“ Schmunzelnd fügt er hinzu: „Der liebe Gott hat mich an meiner schwächsten Stelle erwischt: der Geduld.“

Er denkt über Alternativen nach, sieht sich „am Scheidepunkt“. Wenn sich über den Sommer nichts tut, will er sich bei seiner Landeskirche um eine neue Stelle bewerben. Aber viel lieber wäre ihm, dass es mit Moskau doch noch klappt: „Dann sind wir binnen zwei Wochen weg.“

Tino Künzel

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