Georges Surabischwili, Carrères georgischer Großvater mütterlicherseits, wurde 1944 bei Bordeaux festgenommen, weil er mit den deutschen Besatzern kollaboriert hatte, und verschwand dann für immer. Für Carrères angesehene Mutter Hélène Carrère d‘Encausse, die die Académie française als Generalsekretärin leitet, ist das Thema tabu – dafür steht zu viel auf dem Spiel. Nur im engen Familienkreis wird über den Großvater gesprochen. Denn „dieser außergewöhnliche Aufstieg in einer Gesellschaft, in der ihr Vater als Außenseiter lebte und verschwand, ist auf Schweigen und, wenn nicht auf Lügen, so doch auf Verdrängung gegründet“.
Während es der Mutter gelingt zu verdrängen, belastet die Geschichte den Sohn umso mehr. Carrère fühlt eine Leerstelle. Das familiäre Sprechverbot macht ihn zu einem Gefangenen seiner selbst. Er hadert mit sich, möchte aber, da er eine sehr tiefe Mutterbindung hat, ihr Geheimnis nicht verraten, fürchtet allerdings, selber daran zugrunde zu gehen, sollte er sich weiterhin in Schweigen hüllen. Sein Aufenthalt in Kotelnitsch hat eine Wunde aufgerissen. Er kehrt nochmal an den Ort zurück, weil er hofft, dort etwas zu finden, was ihn seinen Wurzeln näherbringen könnte: „Es handelt sich um einen Weg, an dessen Beginn die Geschichte des Ungarn steht und an dessen Ende die von Georges Surabischwili.“ Auch des Russischen, der Sprache seiner Kindheit, möchte er wieder mächtig werden, denn „könnte ich Russisch sprechen, wäre ich befreit“.
Das Geheimnis des Großvaters
Carrères besonderer Stil lässt den Leser unmittelbar an allem teilhaben, was ihn bewegt, was ihm widerfährt. Er hat weder einen Roman noch eine Reportage geschrieben, eher eine große Beichte, in der das eigene Ich im Mittelpunkt steht. Mehrmals nimmt er uns nach Kotelnitsch mit. Wir erleben, wie dessen Bewohner unfreiwillig für Carrères Filmaufnahmen herhalten müssen, lernen die Übersetzerin Anja kennen, die später in tragischer Weise ums Leben kommt, und ihren Mann Sascha, der beim Inlandsgeheimdienst FSB arbeitet. Wir wohnen den intensiven Eifersuchtsdramen zwischen dem Autor und seiner Freundin bei, und sind zugegen, wenn er sie betrügt und sie von einem anderen schwanger wird.
Der Preis dieses Teilnehmenlassens ist hoch: Die Schamlosigkeit und das ständige Aufnötigen von Bekenntnissen möchte man manchmal dann doch nicht lesen, gerade wenn es um das Intime geht. Man wird unfreiwillig zum Voyeur und fragt sich, wie weit der Autor mit seinen Offenbarungen gehen darf. Wo ist die Grenze? Doch Carrère bleibt mit seiner auf die Spitze getriebenen Selbstbespiegelung gnadenlos. Fast masochistisch blickt er zurück und gibt alles preis: sich selbst und seine Umgebung.
In einem Interview gestand der Schriftsteller später, dass er mit dem Roman vielleicht zu weit gegangen sei. Doch sei ihm das beim Schreiben unabdingbar erschienen, weil ihm sein literarisches Bekenntnis half, sich von seiner Mutter zu lösen. Hier sind wir Zeugen eines psychoanalytischen Prozesses. Carrère hat dem Leid seiner Familie Ausdruck verliehen, indem er das Geheimnis seines Großvaters lüftete: „Ich habe das Grauen und den Wahnsinn geerbt und das Verbot, davon zu sprechen. Aber ich habe darüber gesprochen. Das ist ein Sieg.“ Entstanden ist eine Familienbiografie der besonderen Art.
Von Irina Kilimnik