Wie viel Anrainer hat das Schwarze Meer? Die Antwort auf diese Frage kann je nach Standpunkt ziemlich unterschiedlich ausfallen. Offiziell sind es natürlich sechs: Russland, Georgien, Türkei, Bulgarien, Rumänien und die Ukraine. Doch was ist mit Abchasien, jenem abtrünnigen Teil Georgiens, der international nur von einer Handvoll Staaten anerkannt wird? Und wie verhält es sich mit der Volksrepublik Donezk, die sich von der Ukraine lossagte? Sollte man noch Moldawien dazurechnen, dem seine Küste im Zweiten Weltkrieg abhandenkam? Und wie steht es eigentlich um das antike Ruinenreich der Griechen, dessen Spuren sich an sämtlichen Küsten finden lassen?
Im Uhrzeigersinn ums Schwarze Meer
Es sind verzwickte Fragen wie diese, denen Jens Mühling in seinem Reisebuch „Schwere See“ nachspürt. Für sein neues Werk ist der Berliner Journalist ein dreiviertel Jahr im Uhrzeigesinn um das Schwarze Meer gereist. Beginnend im russischen Örtchen Taman am Fuß der neuen Brücke auf die Krim folgt Mühling per Taxi, Anhalter, Bus und Schiff der Küstenlinie, besucht bekannte und abseits gelegene Orte, immer auf der Suche nach Gesprächen und Begegnungen und getrieben von einem großen Interesse für die wechselhafte Historie der Region. Die Vielfalt an Völkern, Sprachen und Schicksalen, auf die er dabei stößt, ist atemberaubend – gerade für Westeuropäer, die deutlich übersichtlichere Verhältnisse gewöhnt sind. Vor allem die Minderheiten und zahlreichen kleinen Ethnien der Schwarzmeerregion dürften den meisten ziemlich neu sein.
So lernt der Autor gleich zu Beginn seiner Tour Pascha kennen, der sich einen Türken nennt, in Usbekistan geboren wurde, tatsächlich aber Angehöriger der Volksgruppe der Mescheten ist. Die turksprachige Minderheit lebte ursprünglich in Georgien, wurde von Stalin im Zweiten Weltkrieg nach Zentralasien deportiert und musste dort rund ein halbes Jahrhundert in der Verbannung ausharren. Auch das Ende des Kommunismus verbesserte das Schicksal der Mescheten nicht wirklich. Eine Rückkehr nach Georgien wurde ihnen versagt, die meisten gingen daraufhin nach Aserbaidschan, Pascha landete schließlich in Russland.
Zwischen Tscherkessen und Lipowanern
Dies bleibt nicht der einzige verschlungene Lebensweg im Buch. Mühling trifft Tscherkessen, die vor dem syrischen Bürgerkrieg in ihre historische Heimat Abchasien geflohen sind und sich nun ziemlich fremd in dem Landstrich fühlen, den ihre Ahnen vor rund 150 Jahren verlassen mussten. Er lernt Pontosgriechen kennen, die nach Gulag und Verbannung nach Griechenland gingen und dort keine Heimat fanden. Im rumänischen Donaudelta staunt der Autor über altgläubige Lipowaner, die einst vor religiöser Verfolgung aus Russland flüchteten.
Diese Begegnungen sind kunstvoll verzahnt mit Landschaftsbeschreibungen, historischen Betrachtungen und Exkursen zu Kunst und griechischer Mythologie. Zwischendurch gibt es immer wieder lexikonartige Einschübe zur Tier- und Pflanzenwelt des Schwarzen Meeres und seinen geheimnisvollen Strömungen. Der Stil ist anschaulich und auch in den eher wissenschaftlichen Passagen spannend. Langeweile kommt an keiner Stelle auf. Wer hat schon je von der fiesen Killerqualle Mnemiopsis leidyi gehört, die noch vor wenigen Jahren das gesamte Leben im Gewässer bedrohte? Und warum ist das Schwarze Meer eigentlich nicht wirklich schwarz?
DDR-Spuren in der Erinnerung
Auch auf deutsche Spuren stößt Mühling – vor allem ostdeutsche: ein Armenier, der einst in der DDR seinen Wehrdienst ableistete, der Türke Yusuf, der sich vor vier Jahrzehnten in die Schiffsstewardess Gabi aus Rostock verliebte und nach deren überstürzter Rückkehr nie wieder von ihr hörte. In Bulgarien blickt Mühling aufs Meer und erinnert an hunderte Ostdeutsche, die über das Wasser einst dem Ostblock entkommen wollten und ihren Freiheitswunsch oft mit dem Leben bezahlten.
Aufschlussreich sind auch die Reflexionen, die Mühling zu den Verheerungen nationalistischer und imperialer Politik anstellt. Denn bei aller Vielfalt: Was er an den Küsten vorfindet, ist nur ein müder Abglanz der sagenhaft reichen Vergangenheit der Schwarzmeergesellschaft des Altertums. Über die Jahrtausende haben Potentaten Völker auseinandergerissen und deren Spuren getilgt. Dutzende Minderheiten mussten die Küstenabschnitte wechseln. Besonders stark schlugen die Nationalstaaten des 20. Jahrhunderts zu, die das Völkerwirrwarr an ihren Rändern nur schwer ertrugen. Was die Geschichte aber auch zeigt: Imperien und Macht sind nicht ewig, Grenzen oft nur flüchtig.
Mühling erschließt seinen Lesern auf unterhaltsame und anspruchsvolle Weise eine Region, die sonst eher am Rand der europäischen Wahrnehmung liegt. Klare Leseempfehlung!
Birger Schütz