„Ich bereue keinen einzigen Tag“

Ein Autounfall, eine schwere Verletzung, die schleichende Erkenntnis, nie wieder laufen zu können – das Leben der Journalistin Aislu Assan (38) aus Karaganda in Kasachstan wurde vor 16 Jahren auf den Kopf gestellt. Im Interview mit Janina Urussowa, einer in Berlin lebenden Expertin für Disability Business Inclusion, spricht die Mitbegründerin des Moskauer Inklusionsprojekts Everland darüber, warum sie trotzdem nicht mit ihrem Schicksal hadert.

Seit 16 Jahren auf den Rollstuhl angewiesen: Aislu Assan (Foto: Privat)

Was waren Ihre Zukunftspläne vor dem Unfall von 2004 und was hat sich dann genau zugetragen?

Nach dem Hochschulabschluss als Journalistin in Karaganda habe ich geheiratet und ein Kind bekommen. Zum Zeitpunkt des Unfalls befand ich mich im Mutterschaftsurlaub, unsere Tochter war sieben Monate alt. Journalistisch gearbeitet hatte ich bis dahin noch nicht, aber träumte wie alle anderen davon, mich im Beruf verwirklichen zu können. Ich wollte Reporterin werden, von Veranstaltungen berichten, über interessante Ereignisse schreiben. Und dann ist der Unfall passiert. Ich wurde aus dem Autofenster geschleudert und zog mir einen Halswirbelbruch zu. Als Folge war ich zu einem Großteil gelähmt. Das betraf auch die Hände, die man nicht zuletzt braucht, um Texte auf der Tastatur zu schreiben.

Inwieweit können Sie Ihre Hände heute bewegen?

Sie sind immer noch in einem ähnlichen Zustand wie damals. Aber ich habe trotzdem gelernt, am Laptop zu arbeiten. Das verblüfft viele Menschen mit Halswirbelbruch. Sie denken: Wie kann das gehen? Wie kann man mit diesen verkrümmten Fingern auf der Tastatur schreiben? Aber ich habe mich umgestellt. Ich benutze keine Maus, ich tippe mit dem Daumen der linken Hand. So schaffe ich viele Tausend Zeichen am Tag und erstelle Texte, wie ich es mir erträumt hatte.

Wie lange hat es gedauert, bis Sie die neue Situation annehmen konnten?

Es mag schlimm klingen, aber so richtig ist mir das wohl erst nach fünf Jahren gelungen. Irgendwann hatte ich es satt, zu jammern und mich zu bemitleiden. Ich hatte es satt, nur auf meinen Körper aufzupassen, ohne dass es mir besser geht. Ich wollte keine Unsummen mehr für Reha-Maßnahmen und Eingriffe im Ausland ausgeben, für Ärzte in Russland, in Deutschland, in Peking, wo ich überall gewesen war. Ich wollte nicht mehr an Türen klopfen, die zu waren und sich nicht mehr öffnen würden. Es war an der Zeit zu leben. Und leben heißt sich selbst akzeptieren. Es heißt, in den Spiegel zu schauen und zu wissen: Du bist schön, so wie du bist. Du kannst lernen, du kannst Freude empfinden. So bin ich zur Ruhe gekommen und habe in einen Normalmodus geschaltet.

Der erste Schritt dazu dürfte ein Reha-Aufenthalt in der Stadt Nowokusnezk in Russland gewesen sein, anderthalb Jahre nach dem Unfall. Dort habe ich Menschen im Rollstuhl gesehen, die ein aktives, glückliches Leben führen. Die Liebesbeziehungen haben, sich verabreden, am Abend treffen. Junge Frauen in schönen Nerzmänteln. Frauen, die sich die Haare färben. Junge Frauen, die sich schminken. Mir ist allmählich klar geworden, dass man auch so leben kann, an jedem einzelnen Tag.

Welche Parallelen sehen Sie zwischen den Zwängen, die mit der Pandemie verbunden sind, und den Zwängen, die Ihre Behinderung mit sich gebracht hat?

Jede Krise, das weiß ich heute, birgt auch Möglichkeiten. Das gilt sowohl in der Wirtschaft als auch im Privatleben. Anfangs habe ich mir den Kopf zermartert mit der Frage nach dem Warum. Ich war 22. Was hatte ich verbrochen, dass es mir so erging? Aber nach einer Weile hatte ich eine andere Frage: Wozu? Ich habe mit der Zeit verstanden, dass diese Erfahrung mir hilft, besser zu werden, als Persönlichkeit zu wachsen, einen Quantensprung zu machen. Und das ist ein gutes Gefühl. Ohne meine Behinderung wäre alles viel zu einfach und normal gewesen. Ich akzeptiere diese Erfahrung. Ich bereue keinen einzigen Tag meines Lebens. Ich denke nicht mit Bitterkeit daran, was ich alles durchmachen musste – sowohl körperlich als auch psychisch. Und ich kann allen nur empfehlen, ihre persönliche Situation zu akzeptieren. Schauen Sie in sich hinein und fragen Sie sich: Was gibt mir das? Was kann ich daraus lernen?

Sie sind dreifache Mutter. Wie konnten Sie sich und Ihr Leben organisieren?

Kinder großzuziehen, ist keine leichte Aufgabe für eine Rollstuhlfahrerin. Man schafft das nicht allein, natürlich nicht. Man braucht die Unterstützung der Familie. Und die hatte ich zu jeder Zeit. Von meinem Mann. Von meiner wunderbaren Schwiegermutter. Alle Angehörigen meines Mannes haben uns sehr geholfen. Diese Unterstützung ist essentiell, egal wie stark man ist. Gerade am Anfang des Weges, wenn man in ein Loch fällt und sich nicht allein helfen kann.

Aislu Assan mit ihren Kindern (Foto: Privat)

Wie alt sind Ihre Kinder heute?

Meine ältere Tochter ist dabei, die Schule abzuschließen. Die beiden jüngeren Kinder sind zehn und acht Jahre alt. Ich muss zugeben: Als mein Sohn sechs Jahre nach dem Unfall zur Welt kam, hatte ich Angst. Das Kind auszutragen, war sehr, sehr schwer, vor allem in den letzten Monaten der Schwangerschaft. Aber ich hatte die Hoffnung, dass es nach der Geburt vorbei ist. Dann musste ich jedoch viele, viele Tage in der Klinik verbringen. Es war sehr heiß, es war Sommer. Und ich konnte meinen Sohn nicht stillen – weder im Sitzen noch im Liegen. Ich konnte es einfach nicht.

Irgendwann nach der Geburt hatte ich einen sehr starken hysterischen Anfall. Er hat etwa drei Stunden gedauert, ich konnte mich gar nicht mehr beruhigen. Denn ich habe begriffen: Nichts ist vorbei, die schwerste Zeit kommt noch. Da bin ich in Panik geraten. Aber nach einer Weile wurde ich aus der Geburtsklinik entlassen, ich war wieder in meinen eigenen vier Wänden, in meinem eigenen Bett. Nach ein paar Tagen habe ich auch gelernt, meinen Sohn zu stillen – sowohl im Sitzen als auch im Liegen.

Und heute habe ich es sehr gut. Die Kinder sind schon groß. Sie können für mich die Tür öffnen, meinen Rollstuhl auf die Straße schieben oder mich auch in den Supermarkt begleiten. Bei uns übernimmt jedes Kind bestimmte Aufgaben. Ich bekomme von ihnen viel zurück, muss nur die Richtung vorgeben und kontrollieren.

Sie arbeiten von zu Hause aus. Deshalb hat sich auch mit dem Lockdown für Sie wahrscheinlich wenig verändert.

Ich denke, dass alle Arbeitgeber inzwischen verstanden haben, wie sie davon profitieren, wenn ihre Mitarbeiter im Homeoffice arbeiten. Jene Firmen, in denen das teilweise schon vor dem Lockdown der Fall war, hatten es wohl später viel leichter, sich umzustellen. In diesem Sinne sind Menschen mit Behinderung die Krisengewinner.

Behinderung spielt keine Rolle für die beruflichen Kompetenzen. Kollegen in bestimmten Projekten wussten überhaupt nicht, dass ich eine schwere Behinderung habe. Und sie brauchen das auch nicht zu wissen. Wenn ich effizient arbeiten kann, wenn ich einen guten Job mache, was macht es dann für einen Unterschied, ob das mit den Händen, Füßen oder im Liegen erfolgt?

Würden Sie sagen, dass die Außenwelt bereit ist, Sie als Mitarbeiterin und Kundin zu akzeptieren? Die Frage zielt nicht so sehr auf Barrierefreiheit als solche ab, sondern eher auf das Weltbild der Entscheidungsträger, die Entwicklung von Waren, Dienstleistungen, Arbeitsplätzen, Unternehmen.

Ich bin mir sicher, dass sie bereit ist. Dabei kommt es nicht so sehr auf die Arbeitgeber und die Wirtschaft an als auf uns selbst, die Menschen mit Behinderung. Wenn man keine Rollstuhlfahrer auf der Straße sieht, dann wird man ihnen auch nichts anbieten. Wir können selbst dazu beitragen, dass sich die Situation ändert. Ich führe ein aktives Leben. Ich gehe einkaufen – klar, zusammen mit meiner Familie, aber ich sitze nicht zu Hause. Ich nehme eine Tüte und fahre in den Supermarkt. Ich suche mir Lebensmittel in den Regalen aus, überprüfe die Haltbarkeit und die Inhaltsstoffe.

Ich besuche auch sehr gern Cafés und Restaurants, ich gehe ins Kino. Warum? Erstens ist das eine tolle Möglichkeit, etwas draußen zu unternehmen. Und zweitens handelt es sich um bürgerschaftliches Engagement. Wenn ich mich nicht ins Café oder Restaurant begebe, wer wird dort eine Rampe bauen? Das passiert erst dann, wenn ein Gast Schwierigkeiten hatte, in diese Einrichtung zu gelangen. Und wenn sich der Besitzer Gedanken macht, was er tun kann, damit dieser Gast wiederkommt. Ich bin ein Kunde, verstehen Sie?

Ja.

Und als Kunde komme ich nicht allein, sondern mit Familie, Freunden, Kindern. Ich gebe Feedback. Wir müssen bereit sein, unsere Wohnungen zu verlassen und mit den Leuten zu diskutieren. Zu kommunizieren, was uns stört und was wir brauchen. Nur wenn wir diesen Dialog führen, wird sich etwas ändern, nicht wenn wir in unseren vier Wänden sitzen und schimpfen.

Übersetzung: Wladimir Schirokow

Dieser Beitrag gehört zur Interview-Reihe „In Your Moccasins“ von Janina Urussowa auf YouTube. Die MDZ veröffentlicht ausgewählte Interviews daraus.

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